Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.pdi_476.001 Die auf Psychologie gegründete Poetik ermöglicht vor Allem, pdi_476.008 pdi_476.001 Die auf Psychologie gegründete Poetik ermöglicht vor Allem, pdi_476.008 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0178" n="476"/><lb n="pdi_476.001"/> sie gegründeten Kunst mit geschichtlichem Sinne auffassen und <lb n="pdi_476.002"/> werthhalten. Denn classisch ist eben nicht, was gewissen <lb n="pdi_476.003"/> Regeln entspricht, sondern classisch ist ein Werk in dem Maasse, <lb n="pdi_476.004"/> als es den Menschen der Gegenwart eine vollständige Befriedigung <lb n="pdi_476.005"/> gewährt und seine Wirkung sich in Raum und Zeit <lb n="pdi_476.006"/> ausdehnt.</p> <lb n="pdi_476.007"/> <p> Die auf Psychologie gegründete Poetik ermöglicht vor Allem, <lb n="pdi_476.008"/> die <hi rendition="#g">Function der Poesie in der Gesellschaft</hi> zu erkennen, <lb n="pdi_476.009"/> und auf dieser Erkenntniss beruht das Gefühl der Würde <lb n="pdi_476.010"/> des dichterischen Berufs. Die Poesie war in der älteren Menschheit <lb n="pdi_476.011"/> von Sprache, Religion, Mythos und metaphysischem Denken noch <lb n="pdi_476.012"/> nicht getrennt. Eine geschichtliche Gemüthsstellung des Menschen <lb n="pdi_476.013"/> kann nie ganz in Begriffen ausgedrückt werden. Der Drang, das <lb n="pdi_476.014"/> Unaussprechliche mitzutheilen, lässt Symbole entstehen. Insbesondere <lb n="pdi_476.015"/> die Mythen erfassen von einer religiösen Gemüthsstellung <lb n="pdi_476.016"/> aus die wichtigsten Verhältnisse der Wirklichkeit. Da <lb n="pdi_476.017"/> diese Verhältnisse überall verwandt sind und das Herz des <lb n="pdi_476.018"/> Menschen überall dasselbe, gehen Grundmythen durch die <lb n="pdi_476.019"/> Menschheit. Solche <hi rendition="#g">Symbole</hi> sind: das Verhältniss des Vaters <lb n="pdi_476.020"/> zu seinen Kindern, die Beziehung der Geschlechter, Kampf, Raub <lb n="pdi_476.021"/> und Sieg, Bilder vom Lande der Seligen und dem Paradiese. <lb n="pdi_476.022"/> Das Aeussere, Ferne und Jenseitige wird hier überall aus <lb n="pdi_476.023"/> dem Erlebniss des eignen Inneren fassbar gemacht. Verhältnisse, <lb n="pdi_476.024"/> die durch das Wirkliche hindurch in das Jenseitige <lb n="pdi_476.025"/> reichen, werden aus solchen Verhältnissen, die dem Gefühlsleben <lb n="pdi_476.026"/> vertraut sind, gedeutet. Wie die Zahl der Grundmythen <lb n="pdi_476.027"/> begrenzt ist, so ist es auch die der elementaren Symbole, die <lb n="pdi_476.028"/> in den Cultushandlungen aller Völker wiederkehren. Beispiele <lb n="pdi_476.029"/> von solchen Cultsymbolen sind die Cultusbilder, Opfer, Begräbnisshandlungen, <lb n="pdi_476.030"/> Mahlzeiten und Lichter. Wie durch eine elementare <lb n="pdi_476.031"/> Gewalt werden so von Sprache, Religion, mythischem <lb n="pdi_476.032"/> Denken die Erlebnisse emporgehoben zu poetischer Bedeutsamkeit, <lb n="pdi_476.033"/> die Natur wird beseelt, das Geistige versinnlicht und die <lb n="pdi_476.034"/> Wirklichkeit idealisirt. Nur allmälig löst sich die Poesie aus <lb n="pdi_476.035"/> diesem Zusammenhang los. Von dieser Zeit ab bis zur Gegenwart <lb n="pdi_476.036"/> ist die Poesie immer selbständiger geworden. Die Einheit </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [476/0178]
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sie gegründeten Kunst mit geschichtlichem Sinne auffassen und pdi_476.002
werthhalten. Denn classisch ist eben nicht, was gewissen pdi_476.003
Regeln entspricht, sondern classisch ist ein Werk in dem Maasse, pdi_476.004
als es den Menschen der Gegenwart eine vollständige Befriedigung pdi_476.005
gewährt und seine Wirkung sich in Raum und Zeit pdi_476.006
ausdehnt.
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Die auf Psychologie gegründete Poetik ermöglicht vor Allem, pdi_476.008
die Function der Poesie in der Gesellschaft zu erkennen, pdi_476.009
und auf dieser Erkenntniss beruht das Gefühl der Würde pdi_476.010
des dichterischen Berufs. Die Poesie war in der älteren Menschheit pdi_476.011
von Sprache, Religion, Mythos und metaphysischem Denken noch pdi_476.012
nicht getrennt. Eine geschichtliche Gemüthsstellung des Menschen pdi_476.013
kann nie ganz in Begriffen ausgedrückt werden. Der Drang, das pdi_476.014
Unaussprechliche mitzutheilen, lässt Symbole entstehen. Insbesondere pdi_476.015
die Mythen erfassen von einer religiösen Gemüthsstellung pdi_476.016
aus die wichtigsten Verhältnisse der Wirklichkeit. Da pdi_476.017
diese Verhältnisse überall verwandt sind und das Herz des pdi_476.018
Menschen überall dasselbe, gehen Grundmythen durch die pdi_476.019
Menschheit. Solche Symbole sind: das Verhältniss des Vaters pdi_476.020
zu seinen Kindern, die Beziehung der Geschlechter, Kampf, Raub pdi_476.021
und Sieg, Bilder vom Lande der Seligen und dem Paradiese. pdi_476.022
Das Aeussere, Ferne und Jenseitige wird hier überall aus pdi_476.023
dem Erlebniss des eignen Inneren fassbar gemacht. Verhältnisse, pdi_476.024
die durch das Wirkliche hindurch in das Jenseitige pdi_476.025
reichen, werden aus solchen Verhältnissen, die dem Gefühlsleben pdi_476.026
vertraut sind, gedeutet. Wie die Zahl der Grundmythen pdi_476.027
begrenzt ist, so ist es auch die der elementaren Symbole, die pdi_476.028
in den Cultushandlungen aller Völker wiederkehren. Beispiele pdi_476.029
von solchen Cultsymbolen sind die Cultusbilder, Opfer, Begräbnisshandlungen, pdi_476.030
Mahlzeiten und Lichter. Wie durch eine elementare pdi_476.031
Gewalt werden so von Sprache, Religion, mythischem pdi_476.032
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die Natur wird beseelt, das Geistige versinnlicht und die pdi_476.034
Wirklichkeit idealisirt. Nur allmälig löst sich die Poesie aus pdi_476.035
diesem Zusammenhang los. Von dieser Zeit ab bis zur Gegenwart pdi_476.036
ist die Poesie immer selbständiger geworden. Die Einheit
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