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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
allgemeinsten Art hat Schleiermacher innerhalb des Systems der
Religion zwischen der Thatsache des religiösen Gefühls und den
Thatsachen der Dogmatik und philosophischen Weltanschauung,
zwischen der Thatsache dieses Gefühls und denen des Cultus
sowie der religiösen Geselligkeit aufgestellt. Das Thünen'sche Ge-
setz drückt das Verhältniß aus, in welchem die Entfernung vom
Markte, indem sie die Verwerthung der Bodenprodukte beeinflußt,
die Intensität der Landwirthschaft bedingt. Solche Abhängigkeiten
werden naturgemäß gefunden und dargestellt in dem Zusammen-
wirken der Analyse des Systems mit dem Schluß aus der
Natur der Wechselwirkung der in ihm verbundenen psychischen
oder psychophysischen Elemente sowie der Bedingungen von Natur
und Gesellschaft, unter denen sie stattfindet. Alsdann bestehen Ab-
hängigkeiten engeren Umfangs zwischen den Modifikationen dieser
allgemeinen Eigenschaften eines Systems, welche eine Einzelge-
stalt
desselben bilden. So ist ein Dogma innerhalb eines religiösen
Einzelsystems nicht unabhängig von den anderen, welche in dem-
selben mit ihm vereinigt sind; ja die Hauptaufgabe der Dogmenge-
schichte und Dogmatik, wie sie durch Schleiermachers tiefere Analyse
der Religion zu klarem Bewußtsein gelangte, wird darin liegen, an
die Stelle eines untergeschobenen logischen Verhältnisses von Ab-
hängigkeit, vermöge dessen nur ein Lehrsystem entsteht, in beiden
Wissenschaften die Art von Abhängigkeit der Dogmen untereinander
zu setzen, welche in der Natur der Religion, insbesondere des
Christenthums gegründet ist.

Und zwar beruhen diese Wissenschaften von den Systemen
der Kultur auf psychischen oder psychophysischen Inhalten, und
diesen entsprechen Begriffe, welche von denen, die von der
Individualpsychologie benutzt werden, specifisch verschieden sind und
verglichen mit ihnen als Begriffe zweiter Ordnung im
Aufbau der Geisteswissenschaften bezeichnet werden können. Denn
die Inhaltlichkeit, wie sie in dem Bestandtheil der Menschen-
natur angelegt ist, auf welchem der Zweckzusammenhang eines
Systems beruht, bringt in der Wechselwirkung der Indivi-
duen unter den Bedingungen des Naturganzen, in geschichtlicher

Erſtes einleitendes Buch.
allgemeinſten Art hat Schleiermacher innerhalb des Syſtems der
Religion zwiſchen der Thatſache des religiöſen Gefühls und den
Thatſachen der Dogmatik und philoſophiſchen Weltanſchauung,
zwiſchen der Thatſache dieſes Gefühls und denen des Cultus
ſowie der religiöſen Geſelligkeit aufgeſtellt. Das Thünen’ſche Ge-
ſetz drückt das Verhältniß aus, in welchem die Entfernung vom
Markte, indem ſie die Verwerthung der Bodenprodukte beeinflußt,
die Intenſität der Landwirthſchaft bedingt. Solche Abhängigkeiten
werden naturgemäß gefunden und dargeſtellt in dem Zuſammen-
wirken der Analyſe des Syſtems mit dem Schluß aus der
Natur der Wechſelwirkung der in ihm verbundenen pſychiſchen
oder pſychophyſiſchen Elemente ſowie der Bedingungen von Natur
und Geſellſchaft, unter denen ſie ſtattfindet. Alsdann beſtehen Ab-
hängigkeiten engeren Umfangs zwiſchen den Modifikationen dieſer
allgemeinen Eigenſchaften eines Syſtems, welche eine Einzelge-
ſtalt
deſſelben bilden. So iſt ein Dogma innerhalb eines religiöſen
Einzelſyſtems nicht unabhängig von den anderen, welche in dem-
ſelben mit ihm vereinigt ſind; ja die Hauptaufgabe der Dogmenge-
ſchichte und Dogmatik, wie ſie durch Schleiermachers tiefere Analyſe
der Religion zu klarem Bewußtſein gelangte, wird darin liegen, an
die Stelle eines untergeſchobenen logiſchen Verhältniſſes von Ab-
hängigkeit, vermöge deſſen nur ein Lehrſyſtem entſteht, in beiden
Wiſſenſchaften die Art von Abhängigkeit der Dogmen untereinander
zu ſetzen, welche in der Natur der Religion, insbeſondere des
Chriſtenthums gegründet iſt.

Und zwar beruhen dieſe Wiſſenſchaften von den Syſtemen
der Kultur auf pſychiſchen oder pſychophyſiſchen Inhalten, und
dieſen entſprechen Begriffe, welche von denen, die von der
Individualpſychologie benutzt werden, ſpecifiſch verſchieden ſind und
verglichen mit ihnen als Begriffe zweiter Ordnung im
Aufbau der Geiſteswiſſenſchaften bezeichnet werden können. Denn
die Inhaltlichkeit, wie ſie in dem Beſtandtheil der Menſchen-
natur angelegt iſt, auf welchem der Zweckzuſammenhang eines
Syſtems beruht, bringt in der Wechſelwirkung der Indivi-
duen unter den Bedingungen des Naturganzen, in geſchichtlicher

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[56/0079] Erſtes einleitendes Buch. allgemeinſten Art hat Schleiermacher innerhalb des Syſtems der Religion zwiſchen der Thatſache des religiöſen Gefühls und den Thatſachen der Dogmatik und philoſophiſchen Weltanſchauung, zwiſchen der Thatſache dieſes Gefühls und denen des Cultus ſowie der religiöſen Geſelligkeit aufgeſtellt. Das Thünen’ſche Ge- ſetz drückt das Verhältniß aus, in welchem die Entfernung vom Markte, indem ſie die Verwerthung der Bodenprodukte beeinflußt, die Intenſität der Landwirthſchaft bedingt. Solche Abhängigkeiten werden naturgemäß gefunden und dargeſtellt in dem Zuſammen- wirken der Analyſe des Syſtems mit dem Schluß aus der Natur der Wechſelwirkung der in ihm verbundenen pſychiſchen oder pſychophyſiſchen Elemente ſowie der Bedingungen von Natur und Geſellſchaft, unter denen ſie ſtattfindet. Alsdann beſtehen Ab- hängigkeiten engeren Umfangs zwiſchen den Modifikationen dieſer allgemeinen Eigenſchaften eines Syſtems, welche eine Einzelge- ſtalt deſſelben bilden. So iſt ein Dogma innerhalb eines religiöſen Einzelſyſtems nicht unabhängig von den anderen, welche in dem- ſelben mit ihm vereinigt ſind; ja die Hauptaufgabe der Dogmenge- ſchichte und Dogmatik, wie ſie durch Schleiermachers tiefere Analyſe der Religion zu klarem Bewußtſein gelangte, wird darin liegen, an die Stelle eines untergeſchobenen logiſchen Verhältniſſes von Ab- hängigkeit, vermöge deſſen nur ein Lehrſyſtem entſteht, in beiden Wiſſenſchaften die Art von Abhängigkeit der Dogmen untereinander zu ſetzen, welche in der Natur der Religion, insbeſondere des Chriſtenthums gegründet iſt. Und zwar beruhen dieſe Wiſſenſchaften von den Syſtemen der Kultur auf pſychiſchen oder pſychophyſiſchen Inhalten, und dieſen entſprechen Begriffe, welche von denen, die von der Individualpſychologie benutzt werden, ſpecifiſch verſchieden ſind und verglichen mit ihnen als Begriffe zweiter Ordnung im Aufbau der Geiſteswiſſenſchaften bezeichnet werden können. Denn die Inhaltlichkeit, wie ſie in dem Beſtandtheil der Menſchen- natur angelegt iſt, auf welchem der Zweckzuſammenhang eines Syſtems beruht, bringt in der Wechſelwirkung der Indivi- duen unter den Bedingungen des Naturganzen, in geſchichtlicher

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/79>, abgerufen am 24.11.2024.