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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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festzustellen. Den Menschen, wie er, abgesehen von der Wechsel-
wirkung in der Gesellschaft, gleichsam vor ihr ist, findet sie weder
in der Erfahrung noch vermag sie ihn zu erschließen: wäre das
der Fall, so würde der Aufbau der Geisteswissenschaften sich un-
gleich einfacher gestaltet haben. Selbst der ganz enge Umkreis
unbestimmt ausdrückbarer Grundzüge, welche wir geneigt sind
dem Menschen an und für sich zuzuschreiben, unterliegt dem un-
geschlichteten Streit hart aneinanderstoßender Hypothesen.

Hier kann also sofort ein Verfahren abgewiesen werden,
welches den Aufbau der Geisteswissenschaften unsicher macht, indem
es in die Grundmauern Hypothesen einfügt. Das Verhältniß der
Individualeinheiten zur Gesellschaft ist von zwei entgegengesetzten
Hypothesen aus konstruktiv behandelt worden. Seitdem dem
Naturrecht der Sophisten Plato's Auffassung des Staats als des
Menschen im Großen gegenübertrat, befehden sich diese beiden
Theorien, ähnlich wie die atomistische und die dynamische, in Be-
zug auf die Construktion der Gesellschaft. Wol nähern sie sich
einander in ihrer Fortbildung, aber die Auflösung des Gegensatzes
ist erst möglich, wenn die construktive Methode, die ihn hervor-
brachte, verlassen wird, wenn die einzelnen Wissenschaften der
gesellschaftlichen Wirklichkeit als Theile eines umfassenden analy-
tischen Verfahrens, die einzelnen Wahrheiten als Aussagen über
Theilinhalte dieser Wirklichkeit aufgefaßt werden. In diesem
analytischen Gang der Untersuchung kann die Psychologie nicht,
wie durch die erste dieser Hypothesen geschieht, als Darstellung
der anfänglichen Ausstattung eines von dem geschichtlichen Stamme
der Gesellschaft losgelösten Individuums entwickelt werden. Haben
doch z. B. die Grundverhältnisse des Willens wol den Schauplatz
des Wirkens in den Individuen, aber nicht den Erklärungsgrund.
Eine solche Isolirung und dann eine mechanische Zusammensetzung
von Individuen, als Methode der Construktion der Gesellschaft, war
der Grundfehler der alten naturrechtlichen Schule. Die Einseitig-
keit dieser Richtung ist immer wieder bekämpft worden durch eine
entgegengesetzte Einseitigkeit. Diese hat, gegenüber einer mechanischen
Zusammensetzung der Gesellschaft, Formeln entworfen, welche die

Erſtes einleitendes Buch.
feſtzuſtellen. Den Menſchen, wie er, abgeſehen von der Wechſel-
wirkung in der Geſellſchaft, gleichſam vor ihr iſt, findet ſie weder
in der Erfahrung noch vermag ſie ihn zu erſchließen: wäre das
der Fall, ſo würde der Aufbau der Geiſteswiſſenſchaften ſich un-
gleich einfacher geſtaltet haben. Selbſt der ganz enge Umkreis
unbeſtimmt ausdrückbarer Grundzüge, welche wir geneigt ſind
dem Menſchen an und für ſich zuzuſchreiben, unterliegt dem un-
geſchlichteten Streit hart aneinanderſtoßender Hypotheſen.

Hier kann alſo ſofort ein Verfahren abgewieſen werden,
welches den Aufbau der Geiſteswiſſenſchaften unſicher macht, indem
es in die Grundmauern Hypotheſen einfügt. Das Verhältniß der
Individualeinheiten zur Geſellſchaft iſt von zwei entgegengeſetzten
Hypotheſen aus konſtruktiv behandelt worden. Seitdem dem
Naturrecht der Sophiſten Plato’s Auffaſſung des Staats als des
Menſchen im Großen gegenübertrat, befehden ſich dieſe beiden
Theorien, ähnlich wie die atomiſtiſche und die dynamiſche, in Be-
zug auf die Conſtruktion der Geſellſchaft. Wol nähern ſie ſich
einander in ihrer Fortbildung, aber die Auflöſung des Gegenſatzes
iſt erſt möglich, wenn die conſtruktive Methode, die ihn hervor-
brachte, verlaſſen wird, wenn die einzelnen Wiſſenſchaften der
geſellſchaftlichen Wirklichkeit als Theile eines umfaſſenden analy-
tiſchen Verfahrens, die einzelnen Wahrheiten als Ausſagen über
Theilinhalte dieſer Wirklichkeit aufgefaßt werden. In dieſem
analytiſchen Gang der Unterſuchung kann die Pſychologie nicht,
wie durch die erſte dieſer Hypotheſen geſchieht, als Darſtellung
der anfänglichen Ausſtattung eines von dem geſchichtlichen Stamme
der Geſellſchaft losgelöſten Individuums entwickelt werden. Haben
doch z. B. die Grundverhältniſſe des Willens wol den Schauplatz
des Wirkens in den Individuen, aber nicht den Erklärungsgrund.
Eine ſolche Iſolirung und dann eine mechaniſche Zuſammenſetzung
von Individuen, als Methode der Conſtruktion der Geſellſchaft, war
der Grundfehler der alten naturrechtlichen Schule. Die Einſeitig-
keit dieſer Richtung iſt immer wieder bekämpft worden durch eine
entgegengeſetzte Einſeitigkeit. Dieſe hat, gegenüber einer mechaniſchen
Zuſammenſetzung der Geſellſchaft, Formeln entworfen, welche die

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[38/0061] Erſtes einleitendes Buch. feſtzuſtellen. Den Menſchen, wie er, abgeſehen von der Wechſel- wirkung in der Geſellſchaft, gleichſam vor ihr iſt, findet ſie weder in der Erfahrung noch vermag ſie ihn zu erſchließen: wäre das der Fall, ſo würde der Aufbau der Geiſteswiſſenſchaften ſich un- gleich einfacher geſtaltet haben. Selbſt der ganz enge Umkreis unbeſtimmt ausdrückbarer Grundzüge, welche wir geneigt ſind dem Menſchen an und für ſich zuzuſchreiben, unterliegt dem un- geſchlichteten Streit hart aneinanderſtoßender Hypotheſen. Hier kann alſo ſofort ein Verfahren abgewieſen werden, welches den Aufbau der Geiſteswiſſenſchaften unſicher macht, indem es in die Grundmauern Hypotheſen einfügt. Das Verhältniß der Individualeinheiten zur Geſellſchaft iſt von zwei entgegengeſetzten Hypotheſen aus konſtruktiv behandelt worden. Seitdem dem Naturrecht der Sophiſten Plato’s Auffaſſung des Staats als des Menſchen im Großen gegenübertrat, befehden ſich dieſe beiden Theorien, ähnlich wie die atomiſtiſche und die dynamiſche, in Be- zug auf die Conſtruktion der Geſellſchaft. Wol nähern ſie ſich einander in ihrer Fortbildung, aber die Auflöſung des Gegenſatzes iſt erſt möglich, wenn die conſtruktive Methode, die ihn hervor- brachte, verlaſſen wird, wenn die einzelnen Wiſſenſchaften der geſellſchaftlichen Wirklichkeit als Theile eines umfaſſenden analy- tiſchen Verfahrens, die einzelnen Wahrheiten als Ausſagen über Theilinhalte dieſer Wirklichkeit aufgefaßt werden. In dieſem analytiſchen Gang der Unterſuchung kann die Pſychologie nicht, wie durch die erſte dieſer Hypotheſen geſchieht, als Darſtellung der anfänglichen Ausſtattung eines von dem geſchichtlichen Stamme der Geſellſchaft losgelöſten Individuums entwickelt werden. Haben doch z. B. die Grundverhältniſſe des Willens wol den Schauplatz des Wirkens in den Individuen, aber nicht den Erklärungsgrund. Eine ſolche Iſolirung und dann eine mechaniſche Zuſammenſetzung von Individuen, als Methode der Conſtruktion der Geſellſchaft, war der Grundfehler der alten naturrechtlichen Schule. Die Einſeitig- keit dieſer Richtung iſt immer wieder bekämpft worden durch eine entgegengeſetzte Einſeitigkeit. Dieſe hat, gegenüber einer mechaniſchen Zuſammenſetzung der Geſellſchaft, Formeln entworfen, welche die

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/61>, abgerufen am 05.05.2024.