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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die Wissenschaften des Einzelmenschen.
Studium der psychischen Massenbewegungen werden in ihr
eine stets wachsende Bedeutung erlangen. Die Verwerthung
des ganzen Reichthums der Thatsachen, welche den Stoff der
Geisteswissenschaften überhaupt bilden, ist der wahren Psychologie
sowohl mit den Theorien, von denen demnächst zu sprechen sein
wird, als mit der Geschichte gemeinsam. Alsdann aber ist fest-
zuhalten: außerhalb der psychischen Einheiten, welche den Gegen-
stand der Psychologie bilden, giebt es überhaupt keine geistige
Thatsache für unsere Erfahrung. Da nun die Psychologie keines-
wegs alle Thatsachen in sich schließt, welche Gegenstand der
Geisteswissenschaften sind, oder (was dasselbe ist) welche die
Erfahrung uns an psychischen Einheiten auffassen läßt: so ergiebt
sich hieraus, daß die Psychologie nur einen Theilinhalt dessen,
was in jedem einzelnen Individuum vorgeht, zum Gegenstande
hat. Sie kann daher nur durch eine Abstraction von der Ge-
sammtwissenschaft der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit aus-
gesondert und nur in beständiger Beziehung auf sie entwickelt
werden. Wohl ist die psycho-physische Einheit dadurch in sich ge-
schlossen, daß für sie nur Zweck sein kann, was in ihrem eigenen
Willen gesetzt ist, nur werthvoll, was in ihrem Gefühl so gegeben
ist, nur wirklich und wahr, was als gewiß, als evident vor ihrem
Bewußtsein sich bewährt. Aber dieses so geschlossene, im Selbst-
bewußtsein seiner Einheit gewisse Ganze ist andrerseits nur in dem
Zusammenhang der gesellschaftlichen Wirklichkeit hervorgetreten;
seine Organisation zeigt es als von außen Einwirkung empfangend
und nach außen zurückwirkend; seine ganze Inhaltlichkeit ist nur
eine inmitten der umfassenden Inhaltlichkeit des Geistes in der
Geschichte und Gesellschaft vorübergehend auftretende einzelne Ge-
stalt; ja der höchste Zug seines Wesens ist es, vermöge dessen es
in etwas lebt, das nicht es selber ist. Der Gegenstand der Psycho-
logie ist also jederzeit nur das Individuum, welches aus dem
lebendigen Zusammenhang der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirk-
lichkeit ausgesondert ist, und sie ist darauf angewiesen, die all-
gemeinen Eigenschaften, welche psychische Einzelwesen in diesem
Zusammenhang entwickeln, durch einen Vorgang von Abstraktion

Die Wiſſenſchaften des Einzelmenſchen.
Studium der pſychiſchen Maſſenbewegungen werden in ihr
eine ſtets wachſende Bedeutung erlangen. Die Verwerthung
des ganzen Reichthums der Thatſachen, welche den Stoff der
Geiſteswiſſenſchaften überhaupt bilden, iſt der wahren Pſychologie
ſowohl mit den Theorien, von denen demnächſt zu ſprechen ſein
wird, als mit der Geſchichte gemeinſam. Alsdann aber iſt feſt-
zuhalten: außerhalb der pſychiſchen Einheiten, welche den Gegen-
ſtand der Pſychologie bilden, giebt es überhaupt keine geiſtige
Thatſache für unſere Erfahrung. Da nun die Pſychologie keines-
wegs alle Thatſachen in ſich ſchließt, welche Gegenſtand der
Geiſteswiſſenſchaften ſind, oder (was daſſelbe iſt) welche die
Erfahrung uns an pſychiſchen Einheiten auffaſſen läßt: ſo ergiebt
ſich hieraus, daß die Pſychologie nur einen Theilinhalt deſſen,
was in jedem einzelnen Individuum vorgeht, zum Gegenſtande
hat. Sie kann daher nur durch eine Abſtraction von der Ge-
ſammtwiſſenſchaft der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit aus-
geſondert und nur in beſtändiger Beziehung auf ſie entwickelt
werden. Wohl iſt die pſycho-phyſiſche Einheit dadurch in ſich ge-
ſchloſſen, daß für ſie nur Zweck ſein kann, was in ihrem eigenen
Willen geſetzt iſt, nur werthvoll, was in ihrem Gefühl ſo gegeben
iſt, nur wirklich und wahr, was als gewiß, als evident vor ihrem
Bewußtſein ſich bewährt. Aber dieſes ſo geſchloſſene, im Selbſt-
bewußtſein ſeiner Einheit gewiſſe Ganze iſt andrerſeits nur in dem
Zuſammenhang der geſellſchaftlichen Wirklichkeit hervorgetreten;
ſeine Organiſation zeigt es als von außen Einwirkung empfangend
und nach außen zurückwirkend; ſeine ganze Inhaltlichkeit iſt nur
eine inmitten der umfaſſenden Inhaltlichkeit des Geiſtes in der
Geſchichte und Geſellſchaft vorübergehend auftretende einzelne Ge-
ſtalt; ja der höchſte Zug ſeines Weſens iſt es, vermöge deſſen es
in etwas lebt, das nicht es ſelber iſt. Der Gegenſtand der Pſycho-
logie iſt alſo jederzeit nur das Individuum, welches aus dem
lebendigen Zuſammenhang der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirk-
lichkeit ausgeſondert iſt, und ſie iſt darauf angewieſen, die all-
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[37/0060] Die Wiſſenſchaften des Einzelmenſchen. Studium der pſychiſchen Maſſenbewegungen werden in ihr eine ſtets wachſende Bedeutung erlangen. Die Verwerthung des ganzen Reichthums der Thatſachen, welche den Stoff der Geiſteswiſſenſchaften überhaupt bilden, iſt der wahren Pſychologie ſowohl mit den Theorien, von denen demnächſt zu ſprechen ſein wird, als mit der Geſchichte gemeinſam. Alsdann aber iſt feſt- zuhalten: außerhalb der pſychiſchen Einheiten, welche den Gegen- ſtand der Pſychologie bilden, giebt es überhaupt keine geiſtige Thatſache für unſere Erfahrung. Da nun die Pſychologie keines- wegs alle Thatſachen in ſich ſchließt, welche Gegenſtand der Geiſteswiſſenſchaften ſind, oder (was daſſelbe iſt) welche die Erfahrung uns an pſychiſchen Einheiten auffaſſen läßt: ſo ergiebt ſich hieraus, daß die Pſychologie nur einen Theilinhalt deſſen, was in jedem einzelnen Individuum vorgeht, zum Gegenſtande hat. Sie kann daher nur durch eine Abſtraction von der Ge- ſammtwiſſenſchaft der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit aus- geſondert und nur in beſtändiger Beziehung auf ſie entwickelt werden. Wohl iſt die pſycho-phyſiſche Einheit dadurch in ſich ge- ſchloſſen, daß für ſie nur Zweck ſein kann, was in ihrem eigenen Willen geſetzt iſt, nur werthvoll, was in ihrem Gefühl ſo gegeben iſt, nur wirklich und wahr, was als gewiß, als evident vor ihrem Bewußtſein ſich bewährt. Aber dieſes ſo geſchloſſene, im Selbſt- bewußtſein ſeiner Einheit gewiſſe Ganze iſt andrerſeits nur in dem Zuſammenhang der geſellſchaftlichen Wirklichkeit hervorgetreten; ſeine Organiſation zeigt es als von außen Einwirkung empfangend und nach außen zurückwirkend; ſeine ganze Inhaltlichkeit iſt nur eine inmitten der umfaſſenden Inhaltlichkeit des Geiſtes in der Geſchichte und Geſellſchaft vorübergehend auftretende einzelne Ge- ſtalt; ja der höchſte Zug ſeines Weſens iſt es, vermöge deſſen es in etwas lebt, das nicht es ſelber iſt. Der Gegenſtand der Pſycho- logie iſt alſo jederzeit nur das Individuum, welches aus dem lebendigen Zuſammenhang der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirk- lichkeit ausgeſondert iſt, und ſie iſt darauf angewieſen, die all- gemeinen Eigenſchaften, welche pſychiſche Einzelweſen in dieſem Zuſammenhang entwickeln, durch einen Vorgang von Abſtraktion

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/60>, abgerufen am 23.11.2024.