Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.
Drei Classen von Aussagen in den Geisteswissenschaften. knüpfen in sich drei unterschiedene Classen von Aussagen. Dieeinen von ihnen sprechen ein Wirkliches aus, das in der Wahr- nehmung gegeben ist; sie enthalten den historischen Bestandtheil der Erkenntniß. Die anderen entwickeln das gleichförmige Ver- halten von Theilinhalten dieser Wirklichkeit, welche durch Abstrak- tion ausgesondert sind: sie bilden den theoretischen Bestandtheil derselben. Die letzten drücken Werthurtheile aus und schreiben Regeln vor: in ihnen ist der praktische Bestandtheil der Geistes- wissenschaften befaßt. Thatsachen, Theoreme, Werthurtheile und Regeln: aus diesen drei Classen von Sätzen bestehen die Geistes- wissenschaften. Und die Beziehung zwischen der historischen Richtung in der Auffassung, der abstrakt-theoretischen und der praktischen geht als ein gemeinsames Grundverhältniß durch die Geisteswissen- schaften. Die Auffassung des Singularen, Individualen bildet in ihnen (da sie die beständige Widerlegung des Satzes von Spinoza: omnis determinatio est negatio sind) so gut einen letzten Zweck als die Entwicklung abstrakter Gleichförmigkeiten. Von der ersten Wurzel im Bewußtsein bis zur höchsten Spitze ist der Zusammenhang der Werthurtheile und Imperative unabhängig von dem der zwei ersten Classen. Die Beziehung dieser drei Aufgaben zu einander im denkenden Bewußtsein kann erst im Verlauf der erkenntniß- theoretischen Analysis (umfassender: der Selbstbesinnung) ent- wickelt werden. Jedenfalls bleiben Aussagen über Wirklichkeit von Werthurtheilen und Imperativen auch in der Wurzel gesondert: so entstehen zwei Arten von Sätzen, die primär verschieden sind. Und zugleich muß anerkannt werden, daß diese Verschiedenheit innerhalb der Geisteswissenschaften einen doppelten Zusammenhang in denselben zur Folge hat. Wie sie gewachsen sind enthalten die Geisteswissen- schaften neben der Erkenntniß dessen was ist das Bewußtsein des Zu- sammenhangs der Werthurtheile und Imperative, als in welchem Werthe, Ideale, Regeln, die Richtung auf Gestaltung der Zukunft verbunden sind. Ein politisches Urtheil, das eine Institution verwirft, ist nicht wahr oder falsch, sondern richtig oder un- richtig, insofern seine Richtung, sein Ziel abgeschätzt wird; wahr oder falsch kann dagegen ein politisches Urtheil sein, welches Dilthey, Einleitung. 3
Drei Claſſen von Ausſagen in den Geiſteswiſſenſchaften. knüpfen in ſich drei unterſchiedene Claſſen von Ausſagen. Dieeinen von ihnen ſprechen ein Wirkliches aus, das in der Wahr- nehmung gegeben iſt; ſie enthalten den hiſtoriſchen Beſtandtheil der Erkenntniß. Die anderen entwickeln das gleichförmige Ver- halten von Theilinhalten dieſer Wirklichkeit, welche durch Abſtrak- tion ausgeſondert ſind: ſie bilden den theoretiſchen Beſtandtheil derſelben. Die letzten drücken Werthurtheile aus und ſchreiben Regeln vor: in ihnen iſt der praktiſche Beſtandtheil der Geiſtes- wiſſenſchaften befaßt. Thatſachen, Theoreme, Werthurtheile und Regeln: aus dieſen drei Claſſen von Sätzen beſtehen die Geiſtes- wiſſenſchaften. Und die Beziehung zwiſchen der hiſtoriſchen Richtung in der Auffaſſung, der abſtrakt-theoretiſchen und der praktiſchen geht als ein gemeinſames Grundverhältniß durch die Geiſteswiſſen- ſchaften. Die Auffaſſung des Singularen, Individualen bildet in ihnen (da ſie die beſtändige Widerlegung des Satzes von Spinoza: omnis determinatio est negatio ſind) ſo gut einen letzten Zweck als die Entwicklung abſtrakter Gleichförmigkeiten. Von der erſten Wurzel im Bewußtſein bis zur höchſten Spitze iſt der Zuſammenhang der Werthurtheile und Imperative unabhängig von dem der zwei erſten Claſſen. Die Beziehung dieſer drei Aufgaben zu einander im denkenden Bewußtſein kann erſt im Verlauf der erkenntniß- theoretiſchen Analyſis (umfaſſender: der Selbſtbeſinnung) ent- wickelt werden. Jedenfalls bleiben Ausſagen über Wirklichkeit von Werthurtheilen und Imperativen auch in der Wurzel geſondert: ſo entſtehen zwei Arten von Sätzen, die primär verſchieden ſind. Und zugleich muß anerkannt werden, daß dieſe Verſchiedenheit innerhalb der Geiſteswiſſenſchaften einen doppelten Zuſammenhang in denſelben zur Folge hat. Wie ſie gewachſen ſind enthalten die Geiſteswiſſen- ſchaften neben der Erkenntniß deſſen was iſt das Bewußtſein des Zu- ſammenhangs der Werthurtheile und Imperative, als in welchem Werthe, Ideale, Regeln, die Richtung auf Geſtaltung der Zukunft verbunden ſind. Ein politiſches Urtheil, das eine Inſtitution verwirft, iſt nicht wahr oder falſch, ſondern richtig oder un- richtig, inſofern ſeine Richtung, ſein Ziel abgeſchätzt wird; wahr oder falſch kann dagegen ein politiſches Urtheil ſein, welches Dilthey, Einleitung. 3
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0056" n="33"/><fw place="top" type="header">Drei Claſſen von Ausſagen in den Geiſteswiſſenſchaften.</fw><lb/> knüpfen in ſich drei unterſchiedene Claſſen von Ausſagen. Die<lb/> einen von ihnen ſprechen ein Wirkliches aus, das in der Wahr-<lb/> nehmung gegeben iſt; ſie enthalten den hiſtoriſchen Beſtandtheil<lb/> der Erkenntniß. Die anderen entwickeln das gleichförmige Ver-<lb/> halten von Theilinhalten dieſer Wirklichkeit, welche durch Abſtrak-<lb/> tion ausgeſondert ſind: ſie bilden den theoretiſchen Beſtandtheil<lb/> derſelben. Die letzten drücken Werthurtheile aus und ſchreiben<lb/> Regeln vor: in ihnen iſt der praktiſche Beſtandtheil der Geiſtes-<lb/> wiſſenſchaften befaßt. Thatſachen, Theoreme, Werthurtheile und<lb/> Regeln: aus dieſen drei Claſſen von Sätzen beſtehen die Geiſtes-<lb/> wiſſenſchaften. Und die Beziehung zwiſchen der hiſtoriſchen Richtung<lb/> in der Auffaſſung, der abſtrakt-theoretiſchen und der praktiſchen<lb/> geht als ein gemeinſames Grundverhältniß durch die Geiſteswiſſen-<lb/> ſchaften. Die Auffaſſung des Singularen, Individualen bildet in<lb/> ihnen (da ſie die beſtändige Widerlegung des Satzes von Spinoza:<lb/><hi rendition="#aq">omnis determinatio est negatio</hi> ſind) ſo gut einen letzten Zweck als<lb/> die Entwicklung abſtrakter Gleichförmigkeiten. Von der erſten Wurzel<lb/> im Bewußtſein bis zur höchſten Spitze iſt der Zuſammenhang<lb/> der Werthurtheile und Imperative unabhängig von dem der zwei<lb/> erſten Claſſen. Die Beziehung dieſer drei Aufgaben zu einander<lb/> im denkenden Bewußtſein kann erſt im Verlauf der erkenntniß-<lb/> theoretiſchen Analyſis (umfaſſender: der Selbſtbeſinnung) ent-<lb/> wickelt werden. Jedenfalls bleiben Ausſagen über Wirklichkeit von<lb/> Werthurtheilen und Imperativen auch in der Wurzel geſondert: ſo<lb/> entſtehen zwei Arten von Sätzen, die primär verſchieden ſind. Und<lb/> zugleich muß anerkannt werden, daß dieſe Verſchiedenheit innerhalb<lb/> der Geiſteswiſſenſchaften einen doppelten Zuſammenhang in denſelben<lb/> zur Folge hat. Wie ſie gewachſen ſind enthalten die Geiſteswiſſen-<lb/> ſchaften neben der Erkenntniß deſſen was iſt das Bewußtſein des Zu-<lb/> ſammenhangs der Werthurtheile und Imperative, als in welchem<lb/> Werthe, Ideale, Regeln, die Richtung auf Geſtaltung der Zukunft<lb/> verbunden ſind. Ein politiſches Urtheil, das eine Inſtitution<lb/> verwirft, iſt nicht wahr oder falſch, ſondern richtig oder un-<lb/> richtig, inſofern ſeine Richtung, ſein Ziel abgeſchätzt wird; wahr<lb/> oder falſch kann dagegen ein politiſches Urtheil ſein, welches<lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Dilthey,</hi> Einleitung. 3</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [33/0056]
Drei Claſſen von Ausſagen in den Geiſteswiſſenſchaften.
knüpfen in ſich drei unterſchiedene Claſſen von Ausſagen. Die
einen von ihnen ſprechen ein Wirkliches aus, das in der Wahr-
nehmung gegeben iſt; ſie enthalten den hiſtoriſchen Beſtandtheil
der Erkenntniß. Die anderen entwickeln das gleichförmige Ver-
halten von Theilinhalten dieſer Wirklichkeit, welche durch Abſtrak-
tion ausgeſondert ſind: ſie bilden den theoretiſchen Beſtandtheil
derſelben. Die letzten drücken Werthurtheile aus und ſchreiben
Regeln vor: in ihnen iſt der praktiſche Beſtandtheil der Geiſtes-
wiſſenſchaften befaßt. Thatſachen, Theoreme, Werthurtheile und
Regeln: aus dieſen drei Claſſen von Sätzen beſtehen die Geiſtes-
wiſſenſchaften. Und die Beziehung zwiſchen der hiſtoriſchen Richtung
in der Auffaſſung, der abſtrakt-theoretiſchen und der praktiſchen
geht als ein gemeinſames Grundverhältniß durch die Geiſteswiſſen-
ſchaften. Die Auffaſſung des Singularen, Individualen bildet in
ihnen (da ſie die beſtändige Widerlegung des Satzes von Spinoza:
omnis determinatio est negatio ſind) ſo gut einen letzten Zweck als
die Entwicklung abſtrakter Gleichförmigkeiten. Von der erſten Wurzel
im Bewußtſein bis zur höchſten Spitze iſt der Zuſammenhang
der Werthurtheile und Imperative unabhängig von dem der zwei
erſten Claſſen. Die Beziehung dieſer drei Aufgaben zu einander
im denkenden Bewußtſein kann erſt im Verlauf der erkenntniß-
theoretiſchen Analyſis (umfaſſender: der Selbſtbeſinnung) ent-
wickelt werden. Jedenfalls bleiben Ausſagen über Wirklichkeit von
Werthurtheilen und Imperativen auch in der Wurzel geſondert: ſo
entſtehen zwei Arten von Sätzen, die primär verſchieden ſind. Und
zugleich muß anerkannt werden, daß dieſe Verſchiedenheit innerhalb
der Geiſteswiſſenſchaften einen doppelten Zuſammenhang in denſelben
zur Folge hat. Wie ſie gewachſen ſind enthalten die Geiſteswiſſen-
ſchaften neben der Erkenntniß deſſen was iſt das Bewußtſein des Zu-
ſammenhangs der Werthurtheile und Imperative, als in welchem
Werthe, Ideale, Regeln, die Richtung auf Geſtaltung der Zukunft
verbunden ſind. Ein politiſches Urtheil, das eine Inſtitution
verwirft, iſt nicht wahr oder falſch, ſondern richtig oder un-
richtig, inſofern ſeine Richtung, ſein Ziel abgeſchätzt wird; wahr
oder falſch kann dagegen ein politiſches Urtheil ſein, welches
Dilthey, Einleitung. 3
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
| URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883 |
| URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/56 |
| Zitationshilfe: | Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/56>, abgerufen am 21.11.2024. |
