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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
wandte er sich zuerst, von Staunen angezogen, dem Himmel ent-
gegen; diese Wölbung über uns, die auf dem Rund des Horizontes
zu ruhen scheint, beschäftigte ihn: ein in sich verbundenes räum-
liches, den Menschen stets und überall umgebendes Ganze; so
war die Orientirung im Weltgebäude der Ausgangspunkt wissen-
schaftlicher Forschung, in den östlichen Ländern wie in Europa.
Der Kosmos der geistigen Thatsachen ist nicht dem Auge in seiner
Unermeßlichkeit sichtbar, sondern nur dem sammelnden Geiste des
Forschers; in irgend einem einzelnen Theile tritt er hervor, wo
ein Gelehrter Thatsachen verbindet, und prüft und feststellt: im
Inneren des Gemüthes baut er sich dann auf. Eine kritische
Sichtung der Ueberlieferungen, Feststellung der Thatsachen, Samm-
lung derselben bildet daher eine erste umfassende Arbeit der Geistes-
wissenschaften. Nachdem die Philologie eine mustergiltige Technik
an dem schwierigsten und schönsten Stoff der Geschichte, dem clas-
sischen Alterthum, herausgebildet hat, wird diese Arbeit theils in
unzähligen Einzelforschungen geleistet, theils bildet sie einen
Bestandtheil von weiter reichenden Untersuchungen. Der Zu-
sammenhang dieser reinen Description der geschichtlich-gesellschaft-
lichen Wirklichkeit, wie er auf dem Grunde der Physik der
Erde, angelehnt an die Geographie, die Vertheilung des Geistigen
und seiner Unterschiede auf dem Erdganzen in Zeit und Raum
zu beschreiben zum Ziel hat, kann seine Anschaulichkeit immer nur
durch Zurückführung auf klare räumliche Maße, Zahlenverhältnisse,
Zeitbestimmungen, durch die Hilfsmittel graphischer Darstellung
empfangen. Bloße Sammlung und Sichtung des Materials geht
hier in eine gedankenmäßige Bearbeitung und Gliederung desselben
allmälig über.



VI.
Drei Classen von Aussagen in ihnen.

Die Geisteswissenschaften, wie sie sind und wirken, kraft der
Vernunft der Sache, die in ihrer Geschichte thätig war (nicht wie
die kühnen Architekten, die sie neu bauen wollen, wünschen), ver-

Erſtes einleitendes Buch.
wandte er ſich zuerſt, von Staunen angezogen, dem Himmel ent-
gegen; dieſe Wölbung über uns, die auf dem Rund des Horizontes
zu ruhen ſcheint, beſchäftigte ihn: ein in ſich verbundenes räum-
liches, den Menſchen ſtets und überall umgebendes Ganze; ſo
war die Orientirung im Weltgebäude der Ausgangspunkt wiſſen-
ſchaftlicher Forſchung, in den öſtlichen Ländern wie in Europa.
Der Kosmos der geiſtigen Thatſachen iſt nicht dem Auge in ſeiner
Unermeßlichkeit ſichtbar, ſondern nur dem ſammelnden Geiſte des
Forſchers; in irgend einem einzelnen Theile tritt er hervor, wo
ein Gelehrter Thatſachen verbindet, und prüft und feſtſtellt: im
Inneren des Gemüthes baut er ſich dann auf. Eine kritiſche
Sichtung der Ueberlieferungen, Feſtſtellung der Thatſachen, Samm-
lung derſelben bildet daher eine erſte umfaſſende Arbeit der Geiſtes-
wiſſenſchaften. Nachdem die Philologie eine muſtergiltige Technik
an dem ſchwierigſten und ſchönſten Stoff der Geſchichte, dem claſ-
ſiſchen Alterthum, herausgebildet hat, wird dieſe Arbeit theils in
unzähligen Einzelforſchungen geleiſtet, theils bildet ſie einen
Beſtandtheil von weiter reichenden Unterſuchungen. Der Zu-
ſammenhang dieſer reinen Deſcription der geſchichtlich-geſellſchaft-
lichen Wirklichkeit, wie er auf dem Grunde der Phyſik der
Erde, angelehnt an die Geographie, die Vertheilung des Geiſtigen
und ſeiner Unterſchiede auf dem Erdganzen in Zeit und Raum
zu beſchreiben zum Ziel hat, kann ſeine Anſchaulichkeit immer nur
durch Zurückführung auf klare räumliche Maße, Zahlenverhältniſſe,
Zeitbeſtimmungen, durch die Hilfsmittel graphiſcher Darſtellung
empfangen. Bloße Sammlung und Sichtung des Materials geht
hier in eine gedankenmäßige Bearbeitung und Gliederung deſſelben
allmälig über.



VI.
Drei Claſſen von Ausſagen in ihnen.

Die Geiſteswiſſenſchaften, wie ſie ſind und wirken, kraft der
Vernunft der Sache, die in ihrer Geſchichte thätig war (nicht wie
die kühnen Architekten, die ſie neu bauen wollen, wünſchen), ver-

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[32/0055] Erſtes einleitendes Buch. wandte er ſich zuerſt, von Staunen angezogen, dem Himmel ent- gegen; dieſe Wölbung über uns, die auf dem Rund des Horizontes zu ruhen ſcheint, beſchäftigte ihn: ein in ſich verbundenes räum- liches, den Menſchen ſtets und überall umgebendes Ganze; ſo war die Orientirung im Weltgebäude der Ausgangspunkt wiſſen- ſchaftlicher Forſchung, in den öſtlichen Ländern wie in Europa. Der Kosmos der geiſtigen Thatſachen iſt nicht dem Auge in ſeiner Unermeßlichkeit ſichtbar, ſondern nur dem ſammelnden Geiſte des Forſchers; in irgend einem einzelnen Theile tritt er hervor, wo ein Gelehrter Thatſachen verbindet, und prüft und feſtſtellt: im Inneren des Gemüthes baut er ſich dann auf. Eine kritiſche Sichtung der Ueberlieferungen, Feſtſtellung der Thatſachen, Samm- lung derſelben bildet daher eine erſte umfaſſende Arbeit der Geiſtes- wiſſenſchaften. Nachdem die Philologie eine muſtergiltige Technik an dem ſchwierigſten und ſchönſten Stoff der Geſchichte, dem claſ- ſiſchen Alterthum, herausgebildet hat, wird dieſe Arbeit theils in unzähligen Einzelforſchungen geleiſtet, theils bildet ſie einen Beſtandtheil von weiter reichenden Unterſuchungen. Der Zu- ſammenhang dieſer reinen Deſcription der geſchichtlich-geſellſchaft- lichen Wirklichkeit, wie er auf dem Grunde der Phyſik der Erde, angelehnt an die Geographie, die Vertheilung des Geiſtigen und ſeiner Unterſchiede auf dem Erdganzen in Zeit und Raum zu beſchreiben zum Ziel hat, kann ſeine Anſchaulichkeit immer nur durch Zurückführung auf klare räumliche Maße, Zahlenverhältniſſe, Zeitbeſtimmungen, durch die Hilfsmittel graphiſcher Darſtellung empfangen. Bloße Sammlung und Sichtung des Materials geht hier in eine gedankenmäßige Bearbeitung und Gliederung deſſelben allmälig über. VI. Drei Claſſen von Ausſagen in ihnen. Die Geiſteswiſſenſchaften, wie ſie ſind und wirken, kraft der Vernunft der Sache, die in ihrer Geſchichte thätig war (nicht wie die kühnen Architekten, die ſie neu bauen wollen, wünſchen), ver-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/55>, abgerufen am 24.11.2024.