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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
schlecht nunmehr in ein Alter von Reife und Erfahrung getreten
und daher die Wissenschaft der Neueren der des Alterthums über-
legen sei1). Pascal hatte diese Stelle Bacon's vor Augen, als er
schrieb: "der Mensch unterrichtet sich unaufhörlich in seinem Fort-
schreiten; denn er zieht nicht nur aus seiner eigenen Erfahrung
Vortheil, sondern auch aus der seiner Vorgänger. Alle Menschen
insgesammt bilden in den Wissenschaften einen einzigen fort-
schreitenden Zusammenhang, derart, daß die ganze Abfolge der
Menschen während des Verlaufs von soviel Jahrhunderten als
ein einziger Mensch angesehen werden muß, der immer besteht und
beständig lernt." Turgot und Condorcet erweiterten nun aber diese
Gedanken, indem sie die Wissenschaft als die leitende Macht in der
Geschichte betrachteten und mit ihrem Fortgang den der Aufklärung
und des Gefühls von Gemeinschaft in Zusammenhang setzten.
Und in Deutschland wurde endlich der Punkt erreicht, an welchem
die Auffassung der Gesellschaft nach dem natürlichen System in ein
wahres geschichtliches Bewußtsein überging. Herder fand in der
Verfassung des Einzelmenschen dasjenige, was sich ändert und
den geschichtlichen Fortschritt ausmacht; das Organ, durch welches
die Natur dieses Fortschritts in Deutschland studirt wurde, war
die Kunst, insbesondere die Poesie; und das so entstehende Schema
hat sich im Geiste Hegel's zu einer universellen Betrachtung der
Kulturentwicklung erweitert.

So geht der Fortschritt der Geisteswissenschaften
durch das natürliche System zur entwicklungsgeschichtlichen
Ansicht. "Will man, sagt Diderot, eine kurze Geschichte fast unseres
ganzen Elends kennen? Hier ist sie; es gab einen natürlichen
Menschen; in dessen Inneres führte man einen künstlichen Men-
schen ein. Hierauf entbrannte zwischen beiden ein Bürgerkrieg und
dieser dauert bis zum Tode." Eine solche Entgegensetzung des
Natürlichen und Geschichtlichen zeigt die Schranken der konstruk-
tiven Methode des natürlichen Systems in greller Beleuchtung.
Und wenn Voltaire schrieb: il faudra bouleverser la terre pour

1) Bacon, novum organum I, 84.

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
ſchlecht nunmehr in ein Alter von Reife und Erfahrung getreten
und daher die Wiſſenſchaft der Neueren der des Alterthums über-
legen ſei1). Pascal hatte dieſe Stelle Bacon’s vor Augen, als er
ſchrieb: „der Menſch unterrichtet ſich unaufhörlich in ſeinem Fort-
ſchreiten; denn er zieht nicht nur aus ſeiner eigenen Erfahrung
Vortheil, ſondern auch aus der ſeiner Vorgänger. Alle Menſchen
insgeſammt bilden in den Wiſſenſchaften einen einzigen fort-
ſchreitenden Zuſammenhang, derart, daß die ganze Abfolge der
Menſchen während des Verlaufs von ſoviel Jahrhunderten als
ein einziger Menſch angeſehen werden muß, der immer beſteht und
beſtändig lernt.“ Turgot und Condorcet erweiterten nun aber dieſe
Gedanken, indem ſie die Wiſſenſchaft als die leitende Macht in der
Geſchichte betrachteten und mit ihrem Fortgang den der Aufklärung
und des Gefühls von Gemeinſchaft in Zuſammenhang ſetzten.
Und in Deutſchland wurde endlich der Punkt erreicht, an welchem
die Auffaſſung der Geſellſchaft nach dem natürlichen Syſtem in ein
wahres geſchichtliches Bewußtſein überging. Herder fand in der
Verfaſſung des Einzelmenſchen dasjenige, was ſich ändert und
den geſchichtlichen Fortſchritt ausmacht; das Organ, durch welches
die Natur dieſes Fortſchritts in Deutſchland ſtudirt wurde, war
die Kunſt, insbeſondere die Poeſie; und das ſo entſtehende Schema
hat ſich im Geiſte Hegel’s zu einer univerſellen Betrachtung der
Kulturentwicklung erweitert.

So geht der Fortſchritt der Geiſteswiſſenſchaften
durch das natürliche Syſtem zur entwicklungsgeſchichtlichen
Anſicht. „Will man, ſagt Diderot, eine kurze Geſchichte faſt unſeres
ganzen Elends kennen? Hier iſt ſie; es gab einen natürlichen
Menſchen; in deſſen Inneres führte man einen künſtlichen Men-
ſchen ein. Hierauf entbrannte zwiſchen beiden ein Bürgerkrieg und
dieſer dauert bis zum Tode.“ Eine ſolche Entgegenſetzung des
Natürlichen und Geſchichtlichen zeigt die Schranken der konſtruk-
tiven Methode des natürlichen Syſtems in greller Beleuchtung.
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1) Bacon, novum organum I, 84.
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[486/0509] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. ſchlecht nunmehr in ein Alter von Reife und Erfahrung getreten und daher die Wiſſenſchaft der Neueren der des Alterthums über- legen ſei 1). Pascal hatte dieſe Stelle Bacon’s vor Augen, als er ſchrieb: „der Menſch unterrichtet ſich unaufhörlich in ſeinem Fort- ſchreiten; denn er zieht nicht nur aus ſeiner eigenen Erfahrung Vortheil, ſondern auch aus der ſeiner Vorgänger. Alle Menſchen insgeſammt bilden in den Wiſſenſchaften einen einzigen fort- ſchreitenden Zuſammenhang, derart, daß die ganze Abfolge der Menſchen während des Verlaufs von ſoviel Jahrhunderten als ein einziger Menſch angeſehen werden muß, der immer beſteht und beſtändig lernt.“ Turgot und Condorcet erweiterten nun aber dieſe Gedanken, indem ſie die Wiſſenſchaft als die leitende Macht in der Geſchichte betrachteten und mit ihrem Fortgang den der Aufklärung und des Gefühls von Gemeinſchaft in Zuſammenhang ſetzten. Und in Deutſchland wurde endlich der Punkt erreicht, an welchem die Auffaſſung der Geſellſchaft nach dem natürlichen Syſtem in ein wahres geſchichtliches Bewußtſein überging. Herder fand in der Verfaſſung des Einzelmenſchen dasjenige, was ſich ändert und den geſchichtlichen Fortſchritt ausmacht; das Organ, durch welches die Natur dieſes Fortſchritts in Deutſchland ſtudirt wurde, war die Kunſt, insbeſondere die Poeſie; und das ſo entſtehende Schema hat ſich im Geiſte Hegel’s zu einer univerſellen Betrachtung der Kulturentwicklung erweitert. So geht der Fortſchritt der Geiſteswiſſenſchaften durch das natürliche Syſtem zur entwicklungsgeſchichtlichen Anſicht. „Will man, ſagt Diderot, eine kurze Geſchichte faſt unſeres ganzen Elends kennen? Hier iſt ſie; es gab einen natürlichen Menſchen; in deſſen Inneres führte man einen künſtlichen Men- ſchen ein. Hierauf entbrannte zwiſchen beiden ein Bürgerkrieg und dieſer dauert bis zum Tode.“ Eine ſolche Entgegenſetzung des Natürlichen und Geſchichtlichen zeigt die Schranken der konſtruk- tiven Methode des natürlichen Syſtems in greller Beleuchtung. Und wenn Voltaire ſchrieb: il faudra bouleverser la terre pour 1) Bacon, novum organum I, 84.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 486. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/509>, abgerufen am 01.05.2024.