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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Vierter Abschnitt.
metaphysischer Erkenntnisse zerstört und überall lebensvolles, wir-
kungskräftiges Wissen an ihre Stelle zu setzen begonnen haben.

Der Analysis der menschlichen Gesellschaft ist der Mensch
selber als lebendige Einheit gegeben 1), und die Zergliederung
dieser Lebenseinheit bildet daher ihr fundamentales
Problem
2). Die Betrachtungsweise der älteren Metaphysik
wird zunächst auf diesem Gebiet dadurch beseitigt, daß hinter
die teleologische Gruppirung allgemeiner Formen des geistigen
Lebens zurückgegangen wird auf erklärende Gesetze.

Die neuere Psychologie strebte also, die Gleichförmigkeiten
zu erkennen, nach welchen ein Vorgang im psychischen Leben
von anderen bedingt ist. Hierdurch erwies sie die untergeordnete
Bedeutung der in der metaphysischen Epoche ausgebildeten Psy-
chologie, welche für die einzelnen Vorgänge Klassenbegriffe auf-
gesucht, und diesen Vermögen oder Kräfte untergelegt hatte.
Es ist höchst interessant, in dem zweiten Drittel des siebzehnten
Jahrhunderts zwischen den unzähligen klassificirenden Werken diese
neue Psychologie sich erheben zu sehen. Und zwar stand sie
naturgemäß zunächst unter dem Einfluß der herrschenden Natur-
erklärung, innerhalb deren eine fruchtbare Methode zuerst durchge-
führt worden war. Der Einführung der mechanischen Natur-
erklärung
durch Galilei und Descartes folgte daher unmittelbar
die Ausdehnung dieser Erklärungsweise auf den Men-
schen
und den Staat durch Hobbes und danach durch Spinoza.

Spinozas Satz: mens conatur in suo esse perseverare
indefinita quadam duratione et hujus sui conatus est conscia
3)
stammt aus den Prinzipien der mechanischen Schule; er ordnet

1) S. 18 ff. 35 ff. 44 ff.
2) S. 35 ff.
3) Diesen Ursprung von Eth. III prop. 6--9 zeigt deutlich die Be-
gründung in prop. 4: nulla res nisi a causa externa potest destrui, ein
Satz der nur von Einfachen gelten kann, sonach nicht ohne Weiteres auf
die mens übertragbar ist und nur durch Uebertragung von dem Logischen
auf das Metaphysische gemäß Spinozas falscher Grundvoraussetzung be-
wiesen ist.

Zweites Buch. Vierter Abſchnitt.
metaphyſiſcher Erkenntniſſe zerſtört und überall lebensvolles, wir-
kungskräftiges Wiſſen an ihre Stelle zu ſetzen begonnen haben.

Der Analyſis der menſchlichen Geſellſchaft iſt der Menſch
ſelber als lebendige Einheit gegeben 1), und die Zergliederung
dieſer Lebenseinheit bildet daher ihr fundamentales
Problem
2). Die Betrachtungsweiſe der älteren Metaphyſik
wird zunächſt auf dieſem Gebiet dadurch beſeitigt, daß hinter
die teleologiſche Gruppirung allgemeiner Formen des geiſtigen
Lebens zurückgegangen wird auf erklärende Geſetze.

Die neuere Pſychologie ſtrebte alſo, die Gleichförmigkeiten
zu erkennen, nach welchen ein Vorgang im pſychiſchen Leben
von anderen bedingt iſt. Hierdurch erwies ſie die untergeordnete
Bedeutung der in der metaphyſiſchen Epoche ausgebildeten Pſy-
chologie, welche für die einzelnen Vorgänge Klaſſenbegriffe auf-
geſucht, und dieſen Vermögen oder Kräfte untergelegt hatte.
Es iſt höchſt intereſſant, in dem zweiten Drittel des ſiebzehnten
Jahrhunderts zwiſchen den unzähligen klaſſificirenden Werken dieſe
neue Pſychologie ſich erheben zu ſehen. Und zwar ſtand ſie
naturgemäß zunächſt unter dem Einfluß der herrſchenden Natur-
erklärung, innerhalb deren eine fruchtbare Methode zuerſt durchge-
führt worden war. Der Einführung der mechaniſchen Natur-
erklärung
durch Galilei und Descartes folgte daher unmittelbar
die Ausdehnung dieſer Erklärungsweiſe auf den Men-
ſchen
und den Staat durch Hobbes und danach durch Spinoza.

Spinozas Satz: mens conatur in suo esse perseverare
indefinita quadam duratione et hujus sui conatus est conscia
3)
ſtammt aus den Prinzipien der mechaniſchen Schule; er ordnet

1) S. 18 ff. 35 ff. 44 ff.
2) S. 35 ff.
3) Dieſen Urſprung von Eth. III prop. 6—9 zeigt deutlich die Be-
gründung in prop. 4: nulla res nisi a causa externa potest destrui, ein
Satz der nur von Einfachen gelten kann, ſonach nicht ohne Weiteres auf
die mens übertragbar iſt und nur durch Uebertragung von dem Logiſchen
auf das Metaphyſiſche gemäß Spinozas falſcher Grundvorausſetzung be-
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[478/0501] Zweites Buch. Vierter Abſchnitt. metaphyſiſcher Erkenntniſſe zerſtört und überall lebensvolles, wir- kungskräftiges Wiſſen an ihre Stelle zu ſetzen begonnen haben. Der Analyſis der menſchlichen Geſellſchaft iſt der Menſch ſelber als lebendige Einheit gegeben 1), und die Zergliederung dieſer Lebenseinheit bildet daher ihr fundamentales Problem 2). Die Betrachtungsweiſe der älteren Metaphyſik wird zunächſt auf dieſem Gebiet dadurch beſeitigt, daß hinter die teleologiſche Gruppirung allgemeiner Formen des geiſtigen Lebens zurückgegangen wird auf erklärende Geſetze. Die neuere Pſychologie ſtrebte alſo, die Gleichförmigkeiten zu erkennen, nach welchen ein Vorgang im pſychiſchen Leben von anderen bedingt iſt. Hierdurch erwies ſie die untergeordnete Bedeutung der in der metaphyſiſchen Epoche ausgebildeten Pſy- chologie, welche für die einzelnen Vorgänge Klaſſenbegriffe auf- geſucht, und dieſen Vermögen oder Kräfte untergelegt hatte. Es iſt höchſt intereſſant, in dem zweiten Drittel des ſiebzehnten Jahrhunderts zwiſchen den unzähligen klaſſificirenden Werken dieſe neue Pſychologie ſich erheben zu ſehen. Und zwar ſtand ſie naturgemäß zunächſt unter dem Einfluß der herrſchenden Natur- erklärung, innerhalb deren eine fruchtbare Methode zuerſt durchge- führt worden war. Der Einführung der mechaniſchen Natur- erklärung durch Galilei und Descartes folgte daher unmittelbar die Ausdehnung dieſer Erklärungsweiſe auf den Men- ſchen und den Staat durch Hobbes und danach durch Spinoza. Spinozas Satz: mens conatur in suo esse perseverare indefinita quadam duratione et hujus sui conatus est conscia 3) ſtammt aus den Prinzipien der mechaniſchen Schule; er ordnet 1) S. 18 ff. 35 ff. 44 ff. 2) S. 35 ff. 3) Dieſen Urſprung von Eth. III prop. 6—9 zeigt deutlich die Be- gründung in prop. 4: nulla res nisi a causa externa potest destrui, ein Satz der nur von Einfachen gelten kann, ſonach nicht ohne Weiteres auf die mens übertragbar iſt und nur durch Uebertragung von dem Logiſchen auf das Metaphyſiſche gemäß Spinozas falſcher Grundvorausſetzung be- wieſen iſt.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 478. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/501>, abgerufen am 02.05.2024.