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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zerstörung des historischen Gerüsts der Metaphysik der Geschichte.
dieser teleologischen Deutung in der historischen Tradition von
Anfang, Mitte und Ende der Geschichte sowie in der positiv theo-
logischen Bestimmung ihres Sinns sich aufgelöst hatten, trat nun
die gränzenlose Vieldeutigkeit des geschichtlichen Stoffes
hervor. Hierdurch wurde die Unbrauchbarkeit eines teleo-
logischen Prinzips
der Geschichtserkenntniß nachgewiesen.
Wie denn veraltete Dogmen zumeist weniger dem direkten Argument
erliegen als dem Gefühl der Nichtübereinstimmung mit dem auf
anderen Gebieten des Wissens Erworbenen. Die Kausaluntersuchung
und das Gesetz wurden von der Naturforschung auf die Geistes-
wissenschaften übertragen, so wurde der ganze Unterschied des Er-
kenntnißwerthes von teleologischen Ausdeutungen und von wirk-
lichen Erklärungen besser als durch jedes Argument deutlich, als
man die Entdeckungen von Galilei und Newton mit den Be-
hauptungen von Bossuet verglich. Und im Einzelnen hat die
Anwendung der Analysis auf die zusammengesetzten geistigen
Erscheinungen und die aus ihnen abstrahirten Allgemeinvor-
stellungen schrittweise diese Allgemeinvorstellungen und die aus
ihnen gewebte Metaphysik der Geisteswissenschaften aufgelöst.

Aber der Gang dieser Auflösung der metaphysischen Vorstel-
lungen und der Herstellung eines selbständigen Zusammenhangs
der auf unbefangene Erfahrung gegründeten Kausalerkenntniß ist
auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften ein viel langsamerer
gewesen als auf dem der Naturwissenschaften, und es muß dar-
gelegt werden, wodurch dies bedingt war. Das Verhältniß der
geistigen Thatsachen zur Natur legte den Versuch einer Unterord-
nung insbesondere der Psychologie unter die mechanische Natur-
wissenschaft nahe. Und das berechtigte Streben, Gesellschaft und
Geschichte als ein Ganzes aufzufassen, hat sich nur langsam und
schwer von den aus dem Mittelalter stammenden metaphysischen
Hilfsmitteln zur Lösung dieser Aufgabe getrennt. Dies beides
erläutern die folgenden geschichtlichen Thatsachen, aber sie zeigen
zugleich, wie neben einander fortschreitend das Studium des
Menschen, das der Gesellschaft und das der Geschichte die Schemen

Zerſtörung des hiſtoriſchen Gerüſts der Metaphyſik der Geſchichte.
dieſer teleologiſchen Deutung in der hiſtoriſchen Tradition von
Anfang, Mitte und Ende der Geſchichte ſowie in der poſitiv theo-
logiſchen Beſtimmung ihres Sinns ſich aufgelöſt hatten, trat nun
die gränzenloſe Vieldeutigkeit des geſchichtlichen Stoffes
hervor. Hierdurch wurde die Unbrauchbarkeit eines teleo-
logiſchen Prinzips
der Geſchichtserkenntniß nachgewieſen.
Wie denn veraltete Dogmen zumeiſt weniger dem direkten Argument
erliegen als dem Gefühl der Nichtübereinſtimmung mit dem auf
anderen Gebieten des Wiſſens Erworbenen. Die Kauſalunterſuchung
und das Geſetz wurden von der Naturforſchung auf die Geiſtes-
wiſſenſchaften übertragen, ſo wurde der ganze Unterſchied des Er-
kenntnißwerthes von teleologiſchen Ausdeutungen und von wirk-
lichen Erklärungen beſſer als durch jedes Argument deutlich, als
man die Entdeckungen von Galilei und Newton mit den Be-
hauptungen von Boſſuet verglich. Und im Einzelnen hat die
Anwendung der Analyſis auf die zuſammengeſetzten geiſtigen
Erſcheinungen und die aus ihnen abſtrahirten Allgemeinvor-
ſtellungen ſchrittweiſe dieſe Allgemeinvorſtellungen und die aus
ihnen gewebte Metaphyſik der Geiſteswiſſenſchaften aufgelöſt.

Aber der Gang dieſer Auflöſung der metaphyſiſchen Vorſtel-
lungen und der Herſtellung eines ſelbſtändigen Zuſammenhangs
der auf unbefangene Erfahrung gegründeten Kauſalerkenntniß iſt
auf dem Gebiet der Geiſteswiſſenſchaften ein viel langſamerer
geweſen als auf dem der Naturwiſſenſchaften, und es muß dar-
gelegt werden, wodurch dies bedingt war. Das Verhältniß der
geiſtigen Thatſachen zur Natur legte den Verſuch einer Unterord-
nung insbeſondere der Pſychologie unter die mechaniſche Natur-
wiſſenſchaft nahe. Und das berechtigte Streben, Geſellſchaft und
Geſchichte als ein Ganzes aufzufaſſen, hat ſich nur langſam und
ſchwer von den aus dem Mittelalter ſtammenden metaphyſiſchen
Hilfsmitteln zur Löſung dieſer Aufgabe getrennt. Dies beides
erläutern die folgenden geſchichtlichen Thatſachen, aber ſie zeigen
zugleich, wie neben einander fortſchreitend das Studium des
Menſchen, das der Geſellſchaft und das der Geſchichte die Schemen

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[477/0500] Zerſtörung des hiſtoriſchen Gerüſts der Metaphyſik der Geſchichte. dieſer teleologiſchen Deutung in der hiſtoriſchen Tradition von Anfang, Mitte und Ende der Geſchichte ſowie in der poſitiv theo- logiſchen Beſtimmung ihres Sinns ſich aufgelöſt hatten, trat nun die gränzenloſe Vieldeutigkeit des geſchichtlichen Stoffes hervor. Hierdurch wurde die Unbrauchbarkeit eines teleo- logiſchen Prinzips der Geſchichtserkenntniß nachgewieſen. Wie denn veraltete Dogmen zumeiſt weniger dem direkten Argument erliegen als dem Gefühl der Nichtübereinſtimmung mit dem auf anderen Gebieten des Wiſſens Erworbenen. Die Kauſalunterſuchung und das Geſetz wurden von der Naturforſchung auf die Geiſtes- wiſſenſchaften übertragen, ſo wurde der ganze Unterſchied des Er- kenntnißwerthes von teleologiſchen Ausdeutungen und von wirk- lichen Erklärungen beſſer als durch jedes Argument deutlich, als man die Entdeckungen von Galilei und Newton mit den Be- hauptungen von Boſſuet verglich. Und im Einzelnen hat die Anwendung der Analyſis auf die zuſammengeſetzten geiſtigen Erſcheinungen und die aus ihnen abſtrahirten Allgemeinvor- ſtellungen ſchrittweiſe dieſe Allgemeinvorſtellungen und die aus ihnen gewebte Metaphyſik der Geiſteswiſſenſchaften aufgelöſt. Aber der Gang dieſer Auflöſung der metaphyſiſchen Vorſtel- lungen und der Herſtellung eines ſelbſtändigen Zuſammenhangs der auf unbefangene Erfahrung gegründeten Kauſalerkenntniß iſt auf dem Gebiet der Geiſteswiſſenſchaften ein viel langſamerer geweſen als auf dem der Naturwiſſenſchaften, und es muß dar- gelegt werden, wodurch dies bedingt war. Das Verhältniß der geiſtigen Thatſachen zur Natur legte den Verſuch einer Unterord- nung insbeſondere der Pſychologie unter die mechaniſche Natur- wiſſenſchaft nahe. Und das berechtigte Streben, Geſellſchaft und Geſchichte als ein Ganzes aufzufaſſen, hat ſich nur langſam und ſchwer von den aus dem Mittelalter ſtammenden metaphyſiſchen Hilfsmitteln zur Löſung dieſer Aufgabe getrennt. Dies beides erläutern die folgenden geſchichtlichen Thatſachen, aber ſie zeigen zugleich, wie neben einander fortſchreitend das Studium des Menſchen, das der Geſellſchaft und das der Geſchichte die Schemen

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/500>, abgerufen am 04.12.2024.