Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Begründ. d. Institution a. d. Willen Gottes. Staat als Organismus. nur aus Zeichen erkannt werden kann, so legt Dante die Ge-schichte als ein System von Zeichen des Willens Gottes aus 1). Wie das theokratische System dem Staate seine Stellung in Jenseit dieser ganzen theokratischen Auffassung von Geschichte 1) Dante de monarchia im Beginn des zweiten Buches. 2) Vgl. besonders Buch V. Dort c. 2: est autem res publica, sicut
Plutarcho placet, corpus quoddam, quod divini muneris beneficio ani- matur, et summae aequitatis agitur nutu, et regitur quodam moderamine rationis. ea vero quae cultum religionis in nobis instituunt et infor- mant, et Dei (ne secundum Plutarchum deorum dicam) ceremonias tra- dunt, vicem animae in corpore reipublicae obtinent. Hier gewahrt man direkt die Uebertragung von dem Begriff der Kirche her. Begründ. d. Inſtitution a. d. Willen Gottes. Staat als Organismus. nur aus Zeichen erkannt werden kann, ſo legt Dante die Ge-ſchichte als ein Syſtem von Zeichen des Willens Gottes aus 1). Wie das theokratiſche Syſtem dem Staate ſeine Stellung in Jenſeit dieſer ganzen theokratiſchen Auffaſſung von Geſchichte 1) Dante de monarchia im Beginn des zweiten Buches. 2) Vgl. beſonders Buch V. Dort c. 2: est autem res publica, sicut
Plutarcho placet, corpus quoddam, quod divini muneris beneficio ani- matur, et summae aequitatis agitur nutu, et regitur quodam moderamine rationis. ea vero quae cultum religionis in nobis instituunt et infor- mant, et Dei (ne secundum Plutarchum deorum dicam) ceremonias tra- dunt, vicem animae in corpore reipublicae obtinent. Hier gewahrt man direkt die Uebertragung von dem Begriff der Kirche her. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0464" n="441"/><fw place="top" type="header">Begründ. d. Inſtitution a. d. Willen Gottes. Staat als Organismus.</fw><lb/> nur aus Zeichen erkannt werden kann, ſo legt Dante die Ge-<lb/> ſchichte als ein Syſtem von Zeichen des Willens Gottes aus <note place="foot" n="1)">Dante <hi rendition="#aq">de monarchia</hi> im Beginn des zweiten Buches.</note>.</p><lb/> <p>Wie das theokratiſche Syſtem dem Staate ſeine Stellung in<lb/> der äußeren Organiſation der Geſellſchaft zumaß, ebenſo gewährte<lb/> es einen Anhalt, die Natur des Staates zu beſtimmen. Von dem<lb/> myſtiſchen Leibe der Kirche wurde die <hi rendition="#g">Vorſtellung</hi> des <hi rendition="#g">Organis-<lb/> mus</hi> in einem neuen, über Ariſtoteles hinausgehenden Sinne auf<lb/> den Staat übertragen. Die wol älteſte uns noch zugängliche<lb/> Durchführung der Vergleichung zwiſchen den Gliedern des Körpers<lb/> und den Theilen des Staates unter der Vorausſetzung, daß die<lb/> Grundzüge der organiſchen Struktur wirklich im Staate wieder-<lb/> kehren, war in einer dem Plutarch untergeſchobenen <hi rendition="#aq">Institutio<lb/> Trajani</hi> enthalten, die wir in dem merkwürdigen Polycraticus des<lb/> Johannes von Salisbury noch theilweiſe wiederzuerkennen ver-<lb/> mögen <note place="foot" n="2)">Vgl. beſonders Buch <hi rendition="#aq">V</hi>. Dort <hi rendition="#aq">c. 2: est autem res publica, sicut<lb/> Plutarcho placet, corpus quoddam, quod divini muneris beneficio ani-<lb/> matur, et summae aequitatis agitur nutu, et regitur quodam moderamine<lb/> rationis. ea vero quae cultum religionis in nobis instituunt et infor-<lb/> mant, et Dei (ne secundum Plutarchum deorum dicam) ceremonias tra-<lb/> dunt, vicem animae in corpore reipublicae obtinent</hi>. Hier gewahrt man<lb/> direkt die Uebertragung von dem Begriff der Kirche her.</note>. Dieſe Harmonie des Weltganzen, nach welcher die<lb/> Struktur des Staates als eines <hi rendition="#aq">corpus morale et politicum</hi> ſich<lb/> in der ſeiner Theile, der Individuen, widerſpiegelt, bildet den<lb/> Hintergrund des mittelalterlichen organiſchen Staatsbegriffs. Und<lb/> ſchon die Schriftſteller jener Zeit verwenden geiſtvoll Beziehungen,<lb/> die wir am organiſchen Körper gewahren, zur Aufklärung des<lb/> politiſchen Organismus.</p><lb/> <p>Jenſeit dieſer ganzen theokratiſchen Auffaſſung von Geſchichte<lb/> und geſellſchaftlicher Ordnung trat im Fortſchreiten des Mittelalters<lb/> immer mächtiger eine ganz entgegengeſetzte hervor, welche aus den<lb/> freien Stadtgemeinden des Alterthums ſtammte: die <hi rendition="#g">Ableitung</hi><lb/> der <hi rendition="#g">politiſchen Willenseinheit</hi> und des Rechtes der Herr-<lb/> ſchaft <hi rendition="#g">aus den Einzelwillen</hi> der zu einer Organiſation ver-<lb/> bundenen Perſonen. Dieſe Theorie erklärte die Entſtehung von<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [441/0464]
Begründ. d. Inſtitution a. d. Willen Gottes. Staat als Organismus.
nur aus Zeichen erkannt werden kann, ſo legt Dante die Ge-
ſchichte als ein Syſtem von Zeichen des Willens Gottes aus 1).
Wie das theokratiſche Syſtem dem Staate ſeine Stellung in
der äußeren Organiſation der Geſellſchaft zumaß, ebenſo gewährte
es einen Anhalt, die Natur des Staates zu beſtimmen. Von dem
myſtiſchen Leibe der Kirche wurde die Vorſtellung des Organis-
mus in einem neuen, über Ariſtoteles hinausgehenden Sinne auf
den Staat übertragen. Die wol älteſte uns noch zugängliche
Durchführung der Vergleichung zwiſchen den Gliedern des Körpers
und den Theilen des Staates unter der Vorausſetzung, daß die
Grundzüge der organiſchen Struktur wirklich im Staate wieder-
kehren, war in einer dem Plutarch untergeſchobenen Institutio
Trajani enthalten, die wir in dem merkwürdigen Polycraticus des
Johannes von Salisbury noch theilweiſe wiederzuerkennen ver-
mögen 2). Dieſe Harmonie des Weltganzen, nach welcher die
Struktur des Staates als eines corpus morale et politicum ſich
in der ſeiner Theile, der Individuen, widerſpiegelt, bildet den
Hintergrund des mittelalterlichen organiſchen Staatsbegriffs. Und
ſchon die Schriftſteller jener Zeit verwenden geiſtvoll Beziehungen,
die wir am organiſchen Körper gewahren, zur Aufklärung des
politiſchen Organismus.
Jenſeit dieſer ganzen theokratiſchen Auffaſſung von Geſchichte
und geſellſchaftlicher Ordnung trat im Fortſchreiten des Mittelalters
immer mächtiger eine ganz entgegengeſetzte hervor, welche aus den
freien Stadtgemeinden des Alterthums ſtammte: die Ableitung
der politiſchen Willenseinheit und des Rechtes der Herr-
ſchaft aus den Einzelwillen der zu einer Organiſation ver-
bundenen Perſonen. Dieſe Theorie erklärte die Entſtehung von
1) Dante de monarchia im Beginn des zweiten Buches.
2) Vgl. beſonders Buch V. Dort c. 2: est autem res publica, sicut
Plutarcho placet, corpus quoddam, quod divini muneris beneficio ani-
matur, et summae aequitatis agitur nutu, et regitur quodam moderamine
rationis. ea vero quae cultum religionis in nobis instituunt et infor-
mant, et Dei (ne secundum Plutarchum deorum dicam) ceremonias tra-
dunt, vicem animae in corpore reipublicae obtinent. Hier gewahrt man
direkt die Uebertragung von dem Begriff der Kirche her.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDarüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr] Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |