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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
bis zu dem Bettler an den Pforten der Kirchenthür und dem
leibeigenen Mann, der demüthig in dem letzten Winkel der Kirche
knieend das Opfer der Messe empfängt.

Der schöpferische Keim dieser Anschauung liegt in den Briefen
des Apostel Paulus. Paulus bezeichnet die einzelnen Christen als
Glieder des Leibes Christi; unter Christus als dem Haupte sind
die einzelnen Gemeindeglieder durch die Einheit des Geistes zu
einem Organismus verknüpft. Innerhalb dieses Organismus
haben die einzelnen Gemeindeglieder verschiedene, aber dem Leben
des Ganzen nothwendige Funktionen. Daher leiden mit jedem
Glied alle anderen Glieder mit. In dieser paulinischen Anschau-
ung des christlichen Gemeindelebens ist die Uebertragung des Be-
griffs eines Organismus ein Tropus, und nie hat Paulus
daran gedacht, den Zusammenhang des religiös sittlichen
Lebens der Gemeinde in die Naturgebundenheit des organischen
Lebens herabzumindern. Aber dieser Tropus drückt hier den That-
bestand einer Einheit aus, welche ganz anderer Natur ist, als die
in einem politischen Ganzen. Denn das Pneuma ist in der
Gemeinde eine reale Einheit, ein reales Band, wie die Psyche
in einem menschlichen Körper. Und daher empfängt in dieser
Anwendung der Tropus des Organismus einen genaueren Sinn.

Indem nun aus den Gemeinden, auf welche die tiefsinnige
Anschauung des Paulus sich bezog, die rechtliche und politische
Organisation der katholischen Kirche erwuchs, entstand ein Begriff,
in welchem dieser Staat Gottes vorgestellt wurde als zusammen-
gehalten durch ein reales Band, dem gleichsam neben und zwischen
den Individuen eine Art von Existenz zukam. Wir können die
Momente erkennen, welche diesen Begriff gestaltet haben. Der
Gedanke der Kirche als eines durch den einheitlichen Geist Gottes be-
seelten Körpers empfängt zunächst eine Stütze in der Auffassung des
Abendmahls, welche in demselben das Sakrament der Einverleibung
in die Kirche sieht. Diese Auffassung, wie sie bei Augustinus ab-
geschlossen vorliegt, ist dadurch vermittelt, daß unter dem Körper
Christi die Kirche verstanden wird; daher in dem Abendmahl die
Theilnahme an diesem Körper Christi, der alleinseligmachenden

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
bis zu dem Bettler an den Pforten der Kirchenthür und dem
leibeigenen Mann, der demüthig in dem letzten Winkel der Kirche
knieend das Opfer der Meſſe empfängt.

Der ſchöpferiſche Keim dieſer Anſchauung liegt in den Briefen
des Apoſtel Paulus. Paulus bezeichnet die einzelnen Chriſten als
Glieder des Leibes Chriſti; unter Chriſtus als dem Haupte ſind
die einzelnen Gemeindeglieder durch die Einheit des Geiſtes zu
einem Organismus verknüpft. Innerhalb dieſes Organismus
haben die einzelnen Gemeindeglieder verſchiedene, aber dem Leben
des Ganzen nothwendige Funktionen. Daher leiden mit jedem
Glied alle anderen Glieder mit. In dieſer pauliniſchen Anſchau-
ung des chriſtlichen Gemeindelebens iſt die Uebertragung des Be-
griffs eines Organismus ein Tropus, und nie hat Paulus
daran gedacht, den Zuſammenhang des religiös ſittlichen
Lebens der Gemeinde in die Naturgebundenheit des organiſchen
Lebens herabzumindern. Aber dieſer Tropus drückt hier den That-
beſtand einer Einheit aus, welche ganz anderer Natur iſt, als die
in einem politiſchen Ganzen. Denn das Pneuma iſt in der
Gemeinde eine reale Einheit, ein reales Band, wie die Pſyche
in einem menſchlichen Körper. Und daher empfängt in dieſer
Anwendung der Tropus des Organismus einen genaueren Sinn.

Indem nun aus den Gemeinden, auf welche die tiefſinnige
Anſchauung des Paulus ſich bezog, die rechtliche und politiſche
Organiſation der katholiſchen Kirche erwuchs, entſtand ein Begriff,
in welchem dieſer Staat Gottes vorgeſtellt wurde als zuſammen-
gehalten durch ein reales Band, dem gleichſam neben und zwiſchen
den Individuen eine Art von Exiſtenz zukam. Wir können die
Momente erkennen, welche dieſen Begriff geſtaltet haben. Der
Gedanke der Kirche als eines durch den einheitlichen Geiſt Gottes be-
ſeelten Körpers empfängt zunächſt eine Stütze in der Auffaſſung des
Abendmahls, welche in demſelben das Sakrament der Einverleibung
in die Kirche ſieht. Dieſe Auffaſſung, wie ſie bei Auguſtinus ab-
geſchloſſen vorliegt, iſt dadurch vermittelt, daß unter dem Körper
Chriſti die Kirche verſtanden wird; daher in dem Abendmahl die
Theilnahme an dieſem Körper Chriſti, der alleinſeligmachenden

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[430/0453] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. bis zu dem Bettler an den Pforten der Kirchenthür und dem leibeigenen Mann, der demüthig in dem letzten Winkel der Kirche knieend das Opfer der Meſſe empfängt. Der ſchöpferiſche Keim dieſer Anſchauung liegt in den Briefen des Apoſtel Paulus. Paulus bezeichnet die einzelnen Chriſten als Glieder des Leibes Chriſti; unter Chriſtus als dem Haupte ſind die einzelnen Gemeindeglieder durch die Einheit des Geiſtes zu einem Organismus verknüpft. Innerhalb dieſes Organismus haben die einzelnen Gemeindeglieder verſchiedene, aber dem Leben des Ganzen nothwendige Funktionen. Daher leiden mit jedem Glied alle anderen Glieder mit. In dieſer pauliniſchen Anſchau- ung des chriſtlichen Gemeindelebens iſt die Uebertragung des Be- griffs eines Organismus ein Tropus, und nie hat Paulus daran gedacht, den Zuſammenhang des religiös ſittlichen Lebens der Gemeinde in die Naturgebundenheit des organiſchen Lebens herabzumindern. Aber dieſer Tropus drückt hier den That- beſtand einer Einheit aus, welche ganz anderer Natur iſt, als die in einem politiſchen Ganzen. Denn das Pneuma iſt in der Gemeinde eine reale Einheit, ein reales Band, wie die Pſyche in einem menſchlichen Körper. Und daher empfängt in dieſer Anwendung der Tropus des Organismus einen genaueren Sinn. Indem nun aus den Gemeinden, auf welche die tiefſinnige Anſchauung des Paulus ſich bezog, die rechtliche und politiſche Organiſation der katholiſchen Kirche erwuchs, entſtand ein Begriff, in welchem dieſer Staat Gottes vorgeſtellt wurde als zuſammen- gehalten durch ein reales Band, dem gleichſam neben und zwiſchen den Individuen eine Art von Exiſtenz zukam. Wir können die Momente erkennen, welche dieſen Begriff geſtaltet haben. Der Gedanke der Kirche als eines durch den einheitlichen Geiſt Gottes be- ſeelten Körpers empfängt zunächſt eine Stütze in der Auffaſſung des Abendmahls, welche in demſelben das Sakrament der Einverleibung in die Kirche ſieht. Dieſe Auffaſſung, wie ſie bei Auguſtinus ab- geſchloſſen vorliegt, iſt dadurch vermittelt, daß unter dem Körper Chriſti die Kirche verſtanden wird; daher in dem Abendmahl die Theilnahme an dieſem Körper Chriſti, der alleinſeligmachenden

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/453>, abgerufen am 17.05.2024.