Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Kirche und Weltreich.
von der weltlichen begründet. Sie war zuerst in der Entschei-
dung Christi ausgesprochen worden: gebet dem Kaiser, was des
Kaisers ist, und Gott was Gottes ist. Durch diese Trennung
wurden Gesetz und Staat Gottes, die das letzte Wort der alten
Philosophie in der stoischen Schule gewesen waren, in eine
weltliche Ordnung der Gesellschaft und einen religiösen Zusammen-
hang zerlegt. Dem entsprechend lehnte sich nun die nähere Vor-
stellung von dem Zusammenhang der Historie und der Gesell-
schaft an zwei geschichtliche Vorstellungskreise, deren
einer die Kirche, der andere das römische Weltreich, seine
Vorläufer und sein Schicksal zum Gegenstande hatte. Da diese
Gesellschaftslehre von dem Willen und Plane Gottes ausging,
konnte sie nicht rein aus einem Vernunftgehalt den Zusammenhang
der Geschichte deduciren, sondern mußte aus den großen geschicht-
lichen Bezeigungen dieses Willens den Plan Gottes deuten. Die
spekulative Konstruktion trat nur nachträglich zu dieser religiösen
Deutung hinzu, wie ihre Lücken zeigen. Diese Deutung arbeitete
aber mit einem elenden Material. Der unwissenschaftliche Charakter
des mittelalterlichen Geistes und die Herrschaft des Aberglaubens
über denselben kann nur aus seiner Stellung zu den geschichtlichen
Thatsachen und zu der geschichtlichen Tradition verstanden werden.
Denn ihm stand eine abgekürzte und verfälschte Ueberlieferung über
die alte Welt als Autorität gegenüber, gleichviel welche die Ur-
sachen waren, die ihn zu einem so unkritischen Verhalten bestimmt
haben. Und indem diese seine Lage gegenüber den historischen
Wissenschaften mit dem Zustande seines naturwissenschaftlichen
Denkens zusammentraf, breiteten sich von hier aus tiefe Schatten
und fabelhafte Wesen über die Erde aus.

Unter den Elementen, aus welchen die Erklärung der äußeren
Organisation der Gesellschaft im Mittelalter sich zusammensetzt,
war das wichtigste die Anschauung der Kirche. Diese bestimmte
den theokratischen Charakter der mittelalterlichen gesellschaftlichen
Auffassung. Die geistigen Substanzen aller Rangordnungen sind
in der Kirche zu einem mystischen Körper verbunden, der von der
Dreieinigkeit und den Engeln, die ihr zunächst stehen, hinabreicht

Kirche und Weltreich.
von der weltlichen begründet. Sie war zuerſt in der Entſchei-
dung Chriſti ausgeſprochen worden: gebet dem Kaiſer, was des
Kaiſers iſt, und Gott was Gottes iſt. Durch dieſe Trennung
wurden Geſetz und Staat Gottes, die das letzte Wort der alten
Philoſophie in der ſtoiſchen Schule geweſen waren, in eine
weltliche Ordnung der Geſellſchaft und einen religiöſen Zuſammen-
hang zerlegt. Dem entſprechend lehnte ſich nun die nähere Vor-
ſtellung von dem Zuſammenhang der Hiſtorie und der Geſell-
ſchaft an zwei geſchichtliche Vorſtellungskreiſe, deren
einer die Kirche, der andere das römiſche Weltreich, ſeine
Vorläufer und ſein Schickſal zum Gegenſtande hatte. Da dieſe
Geſellſchaftslehre von dem Willen und Plane Gottes ausging,
konnte ſie nicht rein aus einem Vernunftgehalt den Zuſammenhang
der Geſchichte deduciren, ſondern mußte aus den großen geſchicht-
lichen Bezeigungen dieſes Willens den Plan Gottes deuten. Die
ſpekulative Konſtruktion trat nur nachträglich zu dieſer religiöſen
Deutung hinzu, wie ihre Lücken zeigen. Dieſe Deutung arbeitete
aber mit einem elenden Material. Der unwiſſenſchaftliche Charakter
des mittelalterlichen Geiſtes und die Herrſchaft des Aberglaubens
über denſelben kann nur aus ſeiner Stellung zu den geſchichtlichen
Thatſachen und zu der geſchichtlichen Tradition verſtanden werden.
Denn ihm ſtand eine abgekürzte und verfälſchte Ueberlieferung über
die alte Welt als Autorität gegenüber, gleichviel welche die Ur-
ſachen waren, die ihn zu einem ſo unkritiſchen Verhalten beſtimmt
haben. Und indem dieſe ſeine Lage gegenüber den hiſtoriſchen
Wiſſenſchaften mit dem Zuſtande ſeines naturwiſſenſchaftlichen
Denkens zuſammentraf, breiteten ſich von hier aus tiefe Schatten
und fabelhafte Weſen über die Erde aus.

Unter den Elementen, aus welchen die Erklärung der äußeren
Organiſation der Geſellſchaft im Mittelalter ſich zuſammenſetzt,
war das wichtigſte die Anſchauung der Kirche. Dieſe beſtimmte
den theokratiſchen Charakter der mittelalterlichen geſellſchaftlichen
Auffaſſung. Die geiſtigen Subſtanzen aller Rangordnungen ſind
in der Kirche zu einem myſtiſchen Körper verbunden, der von der
Dreieinigkeit und den Engeln, die ihr zunächſt ſtehen, hinabreicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0452" n="429"/><fw place="top" type="header">Kirche und Weltreich.</fw><lb/>
von der <hi rendition="#g">weltlichen</hi> begründet. Sie war zuer&#x017F;t in der Ent&#x017F;chei-<lb/>
dung Chri&#x017F;ti ausge&#x017F;prochen worden: gebet dem Kai&#x017F;er, was des<lb/>
Kai&#x017F;ers i&#x017F;t, und Gott was Gottes i&#x017F;t. Durch die&#x017F;e Trennung<lb/>
wurden Ge&#x017F;etz und Staat Gottes, die das letzte Wort der alten<lb/>
Philo&#x017F;ophie in der &#x017F;toi&#x017F;chen Schule gewe&#x017F;en waren, in eine<lb/>
weltliche Ordnung der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft und einen religiö&#x017F;en Zu&#x017F;ammen-<lb/>
hang zerlegt. Dem ent&#x017F;prechend lehnte &#x017F;ich nun die nähere Vor-<lb/>
&#x017F;tellung von dem Zu&#x017F;ammenhang der Hi&#x017F;torie und der Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaft an <hi rendition="#g">zwei ge&#x017F;chichtliche Vor&#x017F;tellungskrei&#x017F;e,</hi> deren<lb/>
einer die <hi rendition="#g">Kirche,</hi> der andere das <hi rendition="#g">römi&#x017F;che Weltreich,</hi> &#x017F;eine<lb/>
Vorläufer und &#x017F;ein Schick&#x017F;al zum Gegen&#x017F;tande hatte. Da die&#x017F;e<lb/>
Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftslehre von dem Willen und Plane Gottes ausging,<lb/>
konnte &#x017F;ie nicht rein aus einem Vernunftgehalt den Zu&#x017F;ammenhang<lb/>
der Ge&#x017F;chichte deduciren, &#x017F;ondern mußte aus den großen ge&#x017F;chicht-<lb/>
lichen Bezeigungen die&#x017F;es Willens den Plan Gottes deuten. Die<lb/>
&#x017F;pekulative Kon&#x017F;truktion trat nur nachträglich zu die&#x017F;er religiö&#x017F;en<lb/>
Deutung hinzu, wie ihre Lücken zeigen. Die&#x017F;e Deutung arbeitete<lb/>
aber mit einem elenden Material. Der unwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Charakter<lb/>
des mittelalterlichen Gei&#x017F;tes und die Herr&#x017F;chaft des Aberglaubens<lb/>
über den&#x017F;elben kann nur aus &#x017F;einer Stellung zu den ge&#x017F;chichtlichen<lb/>
That&#x017F;achen und zu der ge&#x017F;chichtlichen Tradition ver&#x017F;tanden werden.<lb/>
Denn ihm &#x017F;tand eine abgekürzte und verfäl&#x017F;chte Ueberlieferung über<lb/>
die alte Welt als Autorität gegenüber, gleichviel welche die Ur-<lb/>
&#x017F;achen waren, die ihn zu einem &#x017F;o unkriti&#x017F;chen Verhalten be&#x017F;timmt<lb/>
haben. Und indem die&#x017F;e &#x017F;eine Lage gegenüber den hi&#x017F;tori&#x017F;chen<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften mit dem Zu&#x017F;tande &#x017F;eines naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen<lb/>
Denkens zu&#x017F;ammentraf, breiteten &#x017F;ich von hier aus tiefe Schatten<lb/>
und fabelhafte We&#x017F;en über die Erde aus.</p><lb/>
            <p>Unter den Elementen, aus welchen die Erklärung der äußeren<lb/>
Organi&#x017F;ation der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft im Mittelalter &#x017F;ich zu&#x017F;ammen&#x017F;etzt,<lb/>
war das wichtig&#x017F;te die An&#x017F;chauung der <hi rendition="#g">Kirche</hi>. Die&#x017F;e be&#x017F;timmte<lb/>
den theokrati&#x017F;chen Charakter der mittelalterlichen ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen<lb/>
Auffa&#x017F;&#x017F;ung. Die gei&#x017F;tigen Sub&#x017F;tanzen aller Rangordnungen &#x017F;ind<lb/>
in der Kirche zu einem my&#x017F;ti&#x017F;chen Körper verbunden, der von der<lb/>
Dreieinigkeit und den Engeln, die ihr zunäch&#x017F;t &#x017F;tehen, hinabreicht<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[429/0452] Kirche und Weltreich. von der weltlichen begründet. Sie war zuerſt in der Entſchei- dung Chriſti ausgeſprochen worden: gebet dem Kaiſer, was des Kaiſers iſt, und Gott was Gottes iſt. Durch dieſe Trennung wurden Geſetz und Staat Gottes, die das letzte Wort der alten Philoſophie in der ſtoiſchen Schule geweſen waren, in eine weltliche Ordnung der Geſellſchaft und einen religiöſen Zuſammen- hang zerlegt. Dem entſprechend lehnte ſich nun die nähere Vor- ſtellung von dem Zuſammenhang der Hiſtorie und der Geſell- ſchaft an zwei geſchichtliche Vorſtellungskreiſe, deren einer die Kirche, der andere das römiſche Weltreich, ſeine Vorläufer und ſein Schickſal zum Gegenſtande hatte. Da dieſe Geſellſchaftslehre von dem Willen und Plane Gottes ausging, konnte ſie nicht rein aus einem Vernunftgehalt den Zuſammenhang der Geſchichte deduciren, ſondern mußte aus den großen geſchicht- lichen Bezeigungen dieſes Willens den Plan Gottes deuten. Die ſpekulative Konſtruktion trat nur nachträglich zu dieſer religiöſen Deutung hinzu, wie ihre Lücken zeigen. Dieſe Deutung arbeitete aber mit einem elenden Material. Der unwiſſenſchaftliche Charakter des mittelalterlichen Geiſtes und die Herrſchaft des Aberglaubens über denſelben kann nur aus ſeiner Stellung zu den geſchichtlichen Thatſachen und zu der geſchichtlichen Tradition verſtanden werden. Denn ihm ſtand eine abgekürzte und verfälſchte Ueberlieferung über die alte Welt als Autorität gegenüber, gleichviel welche die Ur- ſachen waren, die ihn zu einem ſo unkritiſchen Verhalten beſtimmt haben. Und indem dieſe ſeine Lage gegenüber den hiſtoriſchen Wiſſenſchaften mit dem Zuſtande ſeines naturwiſſenſchaftlichen Denkens zuſammentraf, breiteten ſich von hier aus tiefe Schatten und fabelhafte Weſen über die Erde aus. Unter den Elementen, aus welchen die Erklärung der äußeren Organiſation der Geſellſchaft im Mittelalter ſich zuſammenſetzt, war das wichtigſte die Anſchauung der Kirche. Dieſe beſtimmte den theokratiſchen Charakter der mittelalterlichen geſellſchaftlichen Auffaſſung. Die geiſtigen Subſtanzen aller Rangordnungen ſind in der Kirche zu einem myſtiſchen Körper verbunden, der von der Dreieinigkeit und den Engeln, die ihr zunächſt ſtehen, hinabreicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/452
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/452>, abgerufen am 17.05.2024.