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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
von dem Naturzusammenhang abhängig. Demnach befinden sich
die psycho-physischen Einheiten in einer doppelten Abhängigkeit dem
Naturlauf gegenüber. Dieser bedingt einerseits von der Stellung
der Erde im kosmischen Ganzen ab als ein System von Ursachen
die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit, und das große Problem
des Verhältnisses von Naturzusammenhang und Freiheit in dieser
Wirklichkeit zerlegt sich für den empirischen Forscher in unzählige
Einzelfragen, welche das Verhältniß zwischen Thatsachen des
Geistes und Einwirkungen der Natur betreffen. Andrerseits
aber entspringen aus den Zwecken dieses Personenreiches Rück-
wirkungen auf die Natur, auf die Erde, welche der Mensch in
diesem Sinne als sein Wohnhaus betrachtet, in dem sich ein-
zurichten er thätig ist, und auch diese Rückwirkungen sind an die
Benutzung des naturgesetzlichen Zusammenhanges gebunden. Alle
Zwecke liegen dem Menschen ausschließlich innerhalb des geistigen
Vorgangs selber, da ja nur in diesem etwas für ihn da ist; aber
der Zweck sucht seine Mittel in dem Zusammenhang der Natur.
Wie unscheinbar ist oft die Veränderung, welche die schöpferische
Macht des Geistes in der Außenwelt hervorgebracht hat: und
doch ruht in dieser allein die Vermittlung, durch welche der so
geschaffene Werth auch für Andere da ist. So sind die wenigen
Blätter, welche, als ein materieller Rückstand tiefster Gedanken-
arbeit der Alten in der Richtung der Annahme einer Bewegung
der Erde, in die Hand des Copernikus kamen, der Ausgangspunkt
einer Revolution in unsrer Weltansicht geworden.

An diesem Punkte kann eingesehen werden, wie relativ die
Abgrenzung dieser beiden Classen von Wissenschaften von einander
ist. Streitigkeiten, wie sie über die Stellung der allgemeinen
Sprachwissenschaft geführt wurden, sind unfruchtbar. An den
beiden Uebergangsstellen, welche von dem Studium der Natur
zu dem des Geistigen führen, an den Punkten, an welchen der
Naturzusammenhang auf die Entwicklung des Geistigen einwirkt,
und an den anderen Punkten, an welchen derselbe von dem
Geistigen Einwirkung empfängt oder auch die Durchgangsstelle
für die Einwirkung auf anderes Geistige bildet, vermischen sich

Erſtes einleitendes Buch.
von dem Naturzuſammenhang abhängig. Demnach befinden ſich
die pſycho-phyſiſchen Einheiten in einer doppelten Abhängigkeit dem
Naturlauf gegenüber. Dieſer bedingt einerſeits von der Stellung
der Erde im kosmiſchen Ganzen ab als ein Syſtem von Urſachen
die geſellſchaftlich-geſchichtliche Wirklichkeit, und das große Problem
des Verhältniſſes von Naturzuſammenhang und Freiheit in dieſer
Wirklichkeit zerlegt ſich für den empiriſchen Forſcher in unzählige
Einzelfragen, welche das Verhältniß zwiſchen Thatſachen des
Geiſtes und Einwirkungen der Natur betreffen. Andrerſeits
aber entſpringen aus den Zwecken dieſes Perſonenreiches Rück-
wirkungen auf die Natur, auf die Erde, welche der Menſch in
dieſem Sinne als ſein Wohnhaus betrachtet, in dem ſich ein-
zurichten er thätig iſt, und auch dieſe Rückwirkungen ſind an die
Benutzung des naturgeſetzlichen Zuſammenhanges gebunden. Alle
Zwecke liegen dem Menſchen ausſchließlich innerhalb des geiſtigen
Vorgangs ſelber, da ja nur in dieſem etwas für ihn da iſt; aber
der Zweck ſucht ſeine Mittel in dem Zuſammenhang der Natur.
Wie unſcheinbar iſt oft die Veränderung, welche die ſchöpferiſche
Macht des Geiſtes in der Außenwelt hervorgebracht hat: und
doch ruht in dieſer allein die Vermittlung, durch welche der ſo
geſchaffene Werth auch für Andere da iſt. So ſind die wenigen
Blätter, welche, als ein materieller Rückſtand tiefſter Gedanken-
arbeit der Alten in der Richtung der Annahme einer Bewegung
der Erde, in die Hand des Copernikus kamen, der Ausgangspunkt
einer Revolution in unſrer Weltanſicht geworden.

An dieſem Punkte kann eingeſehen werden, wie relativ die
Abgrenzung dieſer beiden Claſſen von Wiſſenſchaften von einander
iſt. Streitigkeiten, wie ſie über die Stellung der allgemeinen
Sprachwiſſenſchaft geführt wurden, ſind unfruchtbar. An den
beiden Uebergangsſtellen, welche von dem Studium der Natur
zu dem des Geiſtigen führen, an den Punkten, an welchen der
Naturzuſammenhang auf die Entwicklung des Geiſtigen einwirkt,
und an den anderen Punkten, an welchen derſelbe von dem
Geiſtigen Einwirkung empfängt oder auch die Durchgangsſtelle
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[22/0045] Erſtes einleitendes Buch. von dem Naturzuſammenhang abhängig. Demnach befinden ſich die pſycho-phyſiſchen Einheiten in einer doppelten Abhängigkeit dem Naturlauf gegenüber. Dieſer bedingt einerſeits von der Stellung der Erde im kosmiſchen Ganzen ab als ein Syſtem von Urſachen die geſellſchaftlich-geſchichtliche Wirklichkeit, und das große Problem des Verhältniſſes von Naturzuſammenhang und Freiheit in dieſer Wirklichkeit zerlegt ſich für den empiriſchen Forſcher in unzählige Einzelfragen, welche das Verhältniß zwiſchen Thatſachen des Geiſtes und Einwirkungen der Natur betreffen. Andrerſeits aber entſpringen aus den Zwecken dieſes Perſonenreiches Rück- wirkungen auf die Natur, auf die Erde, welche der Menſch in dieſem Sinne als ſein Wohnhaus betrachtet, in dem ſich ein- zurichten er thätig iſt, und auch dieſe Rückwirkungen ſind an die Benutzung des naturgeſetzlichen Zuſammenhanges gebunden. Alle Zwecke liegen dem Menſchen ausſchließlich innerhalb des geiſtigen Vorgangs ſelber, da ja nur in dieſem etwas für ihn da iſt; aber der Zweck ſucht ſeine Mittel in dem Zuſammenhang der Natur. Wie unſcheinbar iſt oft die Veränderung, welche die ſchöpferiſche Macht des Geiſtes in der Außenwelt hervorgebracht hat: und doch ruht in dieſer allein die Vermittlung, durch welche der ſo geſchaffene Werth auch für Andere da iſt. So ſind die wenigen Blätter, welche, als ein materieller Rückſtand tiefſter Gedanken- arbeit der Alten in der Richtung der Annahme einer Bewegung der Erde, in die Hand des Copernikus kamen, der Ausgangspunkt einer Revolution in unſrer Weltanſicht geworden. An dieſem Punkte kann eingeſehen werden, wie relativ die Abgrenzung dieſer beiden Claſſen von Wiſſenſchaften von einander iſt. Streitigkeiten, wie ſie über die Stellung der allgemeinen Sprachwiſſenſchaft geführt wurden, ſind unfruchtbar. An den beiden Uebergangsſtellen, welche von dem Studium der Natur zu dem des Geiſtigen führen, an den Punkten, an welchen der Naturzuſammenhang auf die Entwicklung des Geiſtigen einwirkt, und an den anderen Punkten, an welchen derſelbe von dem Geiſtigen Einwirkung empfängt oder auch die Durchgangsſtelle für die Einwirkung auf anderes Geiſtige bildet, vermiſchen ſich

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/45>, abgerufen am 28.03.2024.