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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die Zerlegung derselben.
sie auftreten, wirken und aus dem sie wieder zurücktreten, und
somit auch des Studiums der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklich-
keit von der Naturerkenntniß. Hiernach kann der Grad von Be-
rechtigung festgestellt werden, der den Theorien von Comte und
Herbert Spencer über die Stellung dieser Wissenschaften in der
von ihnen aufgestellten Hierarchie der Gesammtwissenschaft zu-
kommt. Wie diese Schrift die relative Selbständigkeit der
Geisteswissenschaften zu begründen versuchen wird, so hat sie
als die andere Seite der Stellung derselben im wissenschaftlichen
Gesammtganzen das System von Abhängigkeiten zu entwickeln,
vermöge dessen sie durch die Naturerkenntniß bedingt sind, und
sonach in dem Aufbau, welcher in der mathematischen Grund-
legung anhebt, das letzte und höchste Glied bilden. Thatsachen
des Geistes sind die oberste Grenze der Thatsachen der Natur, die
Thatsachen der Natur bilden die unteren Bedingungen des geistigen
Lebens. Eben weil das Reich der Personen oder die menschliche
Gesellschaft und Geschichte die höchste unter den Erscheinungen der
irdischen Erfahrungswelt ist, bedarf seine Erkenntniß an unzähligen
Punkten die des Systems von Voraussetzungen, welche für seine
Entwicklung in dem Naturganzen gelegen sind.

Und zwar ist der Mensch, gemäß seiner so dargelegten
Stellung im causalen Zusammenhang der Natur, von dieser in
einer zwiefachen Beziehung bedingt.

Die psycho-physische Einheit, so sahen wir, empfängt, vermittelt
durch das Nervensystem, beständig Einwirkungen aus dem all-
gemeinen Naturlauf und sie wirkt wieder auf ihn zurück. Nun
liegt es aber in ihrer Natur, daß die Wirkungen, welche von ihr
ausgehen, vornehmlich als ein Handeln auftreten, welches von
Zwecken geleitet wird. Für diese psycho-physische Einheit kann
also einerseits der Naturlauf und seine Beschaffenheit in Bezug
auf die Gestaltung der Zwecke selber leitend sein, andrerseits ist
er für dieselbe als ein System von Mitteln zur Erreichung dieser
Zwecke mitbestimmend. Und so sind wir selbst da, wo wir wollen,
wo wir auf die Natur wirken, eben weil wir nicht blinde Kräfte
sind, sondern Willen, welche ihre Zwecke überlegend feststellen,

Die Zerlegung derſelben.
ſie auftreten, wirken und aus dem ſie wieder zurücktreten, und
ſomit auch des Studiums der geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklich-
keit von der Naturerkenntniß. Hiernach kann der Grad von Be-
rechtigung feſtgeſtellt werden, der den Theorien von Comte und
Herbert Spencer über die Stellung dieſer Wiſſenſchaften in der
von ihnen aufgeſtellten Hierarchie der Geſammtwiſſenſchaft zu-
kommt. Wie dieſe Schrift die relative Selbſtändigkeit der
Geiſteswiſſenſchaften zu begründen verſuchen wird, ſo hat ſie
als die andere Seite der Stellung derſelben im wiſſenſchaftlichen
Geſammtganzen das Syſtem von Abhängigkeiten zu entwickeln,
vermöge deſſen ſie durch die Naturerkenntniß bedingt ſind, und
ſonach in dem Aufbau, welcher in der mathematiſchen Grund-
legung anhebt, das letzte und höchſte Glied bilden. Thatſachen
des Geiſtes ſind die oberſte Grenze der Thatſachen der Natur, die
Thatſachen der Natur bilden die unteren Bedingungen des geiſtigen
Lebens. Eben weil das Reich der Perſonen oder die menſchliche
Geſellſchaft und Geſchichte die höchſte unter den Erſcheinungen der
irdiſchen Erfahrungswelt iſt, bedarf ſeine Erkenntniß an unzähligen
Punkten die des Syſtems von Vorausſetzungen, welche für ſeine
Entwicklung in dem Naturganzen gelegen ſind.

Und zwar iſt der Menſch, gemäß ſeiner ſo dargelegten
Stellung im cauſalen Zuſammenhang der Natur, von dieſer in
einer zwiefachen Beziehung bedingt.

Die pſycho-phyſiſche Einheit, ſo ſahen wir, empfängt, vermittelt
durch das Nervenſyſtem, beſtändig Einwirkungen aus dem all-
gemeinen Naturlauf und ſie wirkt wieder auf ihn zurück. Nun
liegt es aber in ihrer Natur, daß die Wirkungen, welche von ihr
ausgehen, vornehmlich als ein Handeln auftreten, welches von
Zwecken geleitet wird. Für dieſe pſycho-phyſiſche Einheit kann
alſo einerſeits der Naturlauf und ſeine Beſchaffenheit in Bezug
auf die Geſtaltung der Zwecke ſelber leitend ſein, andrerſeits iſt
er für dieſelbe als ein Syſtem von Mitteln zur Erreichung dieſer
Zwecke mitbeſtimmend. Und ſo ſind wir ſelbſt da, wo wir wollen,
wo wir auf die Natur wirken, eben weil wir nicht blinde Kräfte
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[21/0044] Die Zerlegung derſelben. ſie auftreten, wirken und aus dem ſie wieder zurücktreten, und ſomit auch des Studiums der geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklich- keit von der Naturerkenntniß. Hiernach kann der Grad von Be- rechtigung feſtgeſtellt werden, der den Theorien von Comte und Herbert Spencer über die Stellung dieſer Wiſſenſchaften in der von ihnen aufgeſtellten Hierarchie der Geſammtwiſſenſchaft zu- kommt. Wie dieſe Schrift die relative Selbſtändigkeit der Geiſteswiſſenſchaften zu begründen verſuchen wird, ſo hat ſie als die andere Seite der Stellung derſelben im wiſſenſchaftlichen Geſammtganzen das Syſtem von Abhängigkeiten zu entwickeln, vermöge deſſen ſie durch die Naturerkenntniß bedingt ſind, und ſonach in dem Aufbau, welcher in der mathematiſchen Grund- legung anhebt, das letzte und höchſte Glied bilden. Thatſachen des Geiſtes ſind die oberſte Grenze der Thatſachen der Natur, die Thatſachen der Natur bilden die unteren Bedingungen des geiſtigen Lebens. Eben weil das Reich der Perſonen oder die menſchliche Geſellſchaft und Geſchichte die höchſte unter den Erſcheinungen der irdiſchen Erfahrungswelt iſt, bedarf ſeine Erkenntniß an unzähligen Punkten die des Syſtems von Vorausſetzungen, welche für ſeine Entwicklung in dem Naturganzen gelegen ſind. Und zwar iſt der Menſch, gemäß ſeiner ſo dargelegten Stellung im cauſalen Zuſammenhang der Natur, von dieſer in einer zwiefachen Beziehung bedingt. Die pſycho-phyſiſche Einheit, ſo ſahen wir, empfängt, vermittelt durch das Nervenſyſtem, beſtändig Einwirkungen aus dem all- gemeinen Naturlauf und ſie wirkt wieder auf ihn zurück. Nun liegt es aber in ihrer Natur, daß die Wirkungen, welche von ihr ausgehen, vornehmlich als ein Handeln auftreten, welches von Zwecken geleitet wird. Für dieſe pſycho-phyſiſche Einheit kann alſo einerſeits der Naturlauf und ſeine Beſchaffenheit in Bezug auf die Geſtaltung der Zwecke ſelber leitend ſein, andrerſeits iſt er für dieſelbe als ein Syſtem von Mitteln zur Erreichung dieſer Zwecke mitbeſtimmend. Und ſo ſind wir ſelbſt da, wo wir wollen, wo wir auf die Natur wirken, eben weil wir nicht blinde Kräfte ſind, ſondern Willen, welche ihre Zwecke überlegend feſtſtellen,

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/44>, abgerufen am 19.04.2024.