Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Duns Scotus und die Antinomie zwischen Intellekt und Wille in Gott.
Scotus1) diese Antinomie mit klarem Bewußtsein aufgefaßt, und
er suchte sie nicht wie Ibn Roschd wegzuschaffen, indem er den
Willen bei Seite brachte, sondern sein System bezeichnet den Punkt
im mittelalterlichen Denken, an welchem mit derselben energischen
Schärfe des Geistes der verstandesmäßige Zusammenhang in der
Welt und das dem Verstande sich entziehende Walten der Freiheit
anerkannt werden. Daher ist sein System von diesem Wider-
spruch in der Mitte zerrissen. Der Bestandtheil der Weltauffassung,
welcher einen gedankenmäßigen nothwendigen Zusammenhang er-
kennt und ihn auf eine denkende Ursache zurückführt, ist gänzlich ge-
trennt von dem anderen, welcher eine unableitbare Thatsächlichkeit,
die eben so gut anders sein, und einen freien Willen, der wollen
oder nicht wollen kann, feststellt und Beides auf ein Prinzip
des Willens zurückführt. Hiervon war die Bedingung, daß er
eine erste gründliche Analyse der Willensfreiheit vornahm; die-
selbe zieht sich durch seine ganze schriftstellerische Thätigkeit hin-
durch. Er stellt sich dem Aristoteles selbständig gegenüber, welcher
das Problem des Unterschieds von Wille und Denken nicht zu-
reichend behandelt habe2), und thut den Schritt zu klarem Erfassen
der sich selbst bestimmenden Spontaneität3). Diese ist
eine unmittelbar gegebene Thatsächlichkeit 4). Dieselbe kann nicht
geleugnet
werden; denn die Zufälligkeit des Weltlaufs ist
augenscheinlich, wer sie bestreitet, müßte gemartert werden, bis
er zugesteht, es sei auch möglich, daß er nicht gemartert würde;
diese Zufälligkeit weist aber auf eine freie Ursache. Die Thatsache
des freien Willens kann andrerseits nicht erklärt werden; denn

1) Ich benutze besonders Duns Scotus in sent. I dist. 1 und 2;
dist. 8 quaest. 5; dist. 39 besonders quaest. 5; II dist. 25. 29. 43.
2) Duns Scotus in sent. I dist. 2 quaest. 7.
3) Vgl. mit Aristoteles S. 268 Duns Scotus in sent. II dist. 25
quaest.
1.
4) Duns Scotus in sent. I dist. 8 quaest. 5: et si quaeras, quare
igitur voluntas divina magis determinatur ad unum contradictoriorum, quam
ad alterum, respondeo: indisciplinati est, quaerere omnium causas et
demonstrationem .. principii enim demonstrationis non est demonstratio:
immediatum autem principium est, voluntatem velle hoc
.

Duns Scotus und die Antinomie zwiſchen Intellekt und Wille in Gott.
Scotus1) dieſe Antinomie mit klarem Bewußtſein aufgefaßt, und
er ſuchte ſie nicht wie Ibn Roſchd wegzuſchaffen, indem er den
Willen bei Seite brachte, ſondern ſein Syſtem bezeichnet den Punkt
im mittelalterlichen Denken, an welchem mit derſelben energiſchen
Schärfe des Geiſtes der verſtandesmäßige Zuſammenhang in der
Welt und das dem Verſtande ſich entziehende Walten der Freiheit
anerkannt werden. Daher iſt ſein Syſtem von dieſem Wider-
ſpruch in der Mitte zerriſſen. Der Beſtandtheil der Weltauffaſſung,
welcher einen gedankenmäßigen nothwendigen Zuſammenhang er-
kennt und ihn auf eine denkende Urſache zurückführt, iſt gänzlich ge-
trennt von dem anderen, welcher eine unableitbare Thatſächlichkeit,
die eben ſo gut anders ſein, und einen freien Willen, der wollen
oder nicht wollen kann, feſtſtellt und Beides auf ein Prinzip
des Willens zurückführt. Hiervon war die Bedingung, daß er
eine erſte gründliche Analyſe der Willensfreiheit vornahm; die-
ſelbe zieht ſich durch ſeine ganze ſchriftſtelleriſche Thätigkeit hin-
durch. Er ſtellt ſich dem Ariſtoteles ſelbſtändig gegenüber, welcher
das Problem des Unterſchieds von Wille und Denken nicht zu-
reichend behandelt habe2), und thut den Schritt zu klarem Erfaſſen
der ſich ſelbſt beſtimmenden Spontaneität3). Dieſe iſt
eine unmittelbar gegebene Thatſächlichkeit 4). Dieſelbe kann nicht
geleugnet
werden; denn die Zufälligkeit des Weltlaufs iſt
augenſcheinlich, wer ſie beſtreitet, müßte gemartert werden, bis
er zugeſteht, es ſei auch möglich, daß er nicht gemartert würde;
dieſe Zufälligkeit weiſt aber auf eine freie Urſache. Die Thatſache
des freien Willens kann andrerſeits nicht erklärt werden; denn

1) Ich benutze beſonders Duns Scotus in sent. I dist. 1 und 2;
dist. 8 quaest. 5; dist. 39 beſonders quaest. 5; II dist. 25. 29. 43.
2) Duns Scotus in sent. I dist. 2 quaest. 7.
3) Vgl. mit Ariſtoteles S. 268 Duns Scotus in sent. II dist. 25
quaest.
1.
4) Duns Scotus in sent. I dist. 8 quaest. 5: et si quaeras, quare
igitur voluntas divina magis determinatur ad unum contradictoriorum, quam
ad alterum, respondeo: indisciplinati est, quaerere omnium causas et
demonstrationem .. principii enim demonstrationis non est demonstratio:
immediatum autem principium est, voluntatem velle hoc
.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0432" n="409"/><fw place="top" type="header">Duns Scotus und die Antinomie zwi&#x017F;chen Intellekt und Wille in Gott.</fw><lb/><hi rendition="#g">Scotus</hi><note place="foot" n="1)">Ich benutze be&#x017F;onders <hi rendition="#g">Duns Scotus</hi> <hi rendition="#aq">in sent. I dist.</hi> 1 und 2;<lb/><hi rendition="#aq">dist. 8 quaest. 5; dist.</hi> 39 be&#x017F;onders <hi rendition="#aq">quaest. 5; II dist.</hi> 25. 29. 43.</note> die&#x017F;e Antinomie mit klarem Bewußt&#x017F;ein aufgefaßt, und<lb/>
er &#x017F;uchte &#x017F;ie nicht wie Ibn Ro&#x017F;chd wegzu&#x017F;chaffen, indem er den<lb/>
Willen bei Seite brachte, &#x017F;ondern &#x017F;ein Sy&#x017F;tem bezeichnet den Punkt<lb/>
im mittelalterlichen Denken, an welchem mit der&#x017F;elben energi&#x017F;chen<lb/>
Schärfe des Gei&#x017F;tes der ver&#x017F;tandesmäßige Zu&#x017F;ammenhang in der<lb/>
Welt und das dem Ver&#x017F;tande &#x017F;ich entziehende Walten der Freiheit<lb/>
anerkannt werden. Daher i&#x017F;t &#x017F;ein Sy&#x017F;tem von die&#x017F;em Wider-<lb/>
&#x017F;pruch in der Mitte zerri&#x017F;&#x017F;en. Der Be&#x017F;tandtheil der Weltauffa&#x017F;&#x017F;ung,<lb/>
welcher einen gedankenmäßigen nothwendigen Zu&#x017F;ammenhang er-<lb/>
kennt und ihn auf eine denkende Ur&#x017F;ache zurückführt, i&#x017F;t gänzlich ge-<lb/>
trennt von dem anderen, welcher eine unableitbare That&#x017F;ächlichkeit,<lb/>
die eben &#x017F;o gut anders &#x017F;ein, und einen freien Willen, der wollen<lb/>
oder nicht wollen kann, fe&#x017F;t&#x017F;tellt und Beides auf ein Prinzip<lb/>
des Willens zurückführt. Hiervon war die Bedingung, daß er<lb/>
eine er&#x017F;te gründliche Analy&#x017F;e der Willensfreiheit vornahm; die-<lb/>
&#x017F;elbe zieht &#x017F;ich durch &#x017F;eine ganze &#x017F;chrift&#x017F;telleri&#x017F;che Thätigkeit hin-<lb/>
durch. Er &#x017F;tellt &#x017F;ich dem Ari&#x017F;toteles &#x017F;elb&#x017F;tändig gegenüber, welcher<lb/>
das Problem des Unter&#x017F;chieds von Wille und Denken nicht zu-<lb/>
reichend behandelt habe<note place="foot" n="2)">Duns Scotus <hi rendition="#aq">in sent. I dist. 2 quaest. 7</hi>.</note>, und thut den Schritt zu klarem Erfa&#x017F;&#x017F;en<lb/>
der &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t <hi rendition="#g">be&#x017F;timmenden Spontaneität</hi><note place="foot" n="3)">Vgl. mit Ari&#x017F;toteles S. 268 Duns Scotus <hi rendition="#aq">in sent. II dist. 25<lb/>
quaest.</hi> 1.</note>. Die&#x017F;e i&#x017F;t<lb/>
eine unmittelbar gegebene That&#x017F;ächlichkeit <note place="foot" n="4)">Duns Scotus <hi rendition="#aq">in sent. I dist. 8 quaest. 5: et si quaeras, quare<lb/>
igitur voluntas divina magis determinatur ad unum contradictoriorum, quam<lb/>
ad alterum, respondeo: indisciplinati est, quaerere omnium causas et<lb/>
demonstrationem .. principii enim demonstrationis non est demonstratio:<lb/><hi rendition="#g">immediatum</hi> autem <hi rendition="#g">principium</hi> est, <hi rendition="#g">voluntatem velle hoc</hi></hi>.</note>. Die&#x017F;elbe kann <hi rendition="#g">nicht<lb/>
geleugnet</hi> werden; denn die Zufälligkeit des Weltlaufs i&#x017F;t<lb/>
augen&#x017F;cheinlich, wer &#x017F;ie be&#x017F;treitet, müßte gemartert werden, bis<lb/>
er zuge&#x017F;teht, es &#x017F;ei auch möglich, daß er nicht gemartert würde;<lb/>
die&#x017F;e Zufälligkeit wei&#x017F;t aber auf eine freie Ur&#x017F;ache. Die That&#x017F;ache<lb/>
des freien Willens kann andrer&#x017F;eits <hi rendition="#g">nicht erklärt</hi> werden; denn<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[409/0432] Duns Scotus und die Antinomie zwiſchen Intellekt und Wille in Gott. Scotus 1) dieſe Antinomie mit klarem Bewußtſein aufgefaßt, und er ſuchte ſie nicht wie Ibn Roſchd wegzuſchaffen, indem er den Willen bei Seite brachte, ſondern ſein Syſtem bezeichnet den Punkt im mittelalterlichen Denken, an welchem mit derſelben energiſchen Schärfe des Geiſtes der verſtandesmäßige Zuſammenhang in der Welt und das dem Verſtande ſich entziehende Walten der Freiheit anerkannt werden. Daher iſt ſein Syſtem von dieſem Wider- ſpruch in der Mitte zerriſſen. Der Beſtandtheil der Weltauffaſſung, welcher einen gedankenmäßigen nothwendigen Zuſammenhang er- kennt und ihn auf eine denkende Urſache zurückführt, iſt gänzlich ge- trennt von dem anderen, welcher eine unableitbare Thatſächlichkeit, die eben ſo gut anders ſein, und einen freien Willen, der wollen oder nicht wollen kann, feſtſtellt und Beides auf ein Prinzip des Willens zurückführt. Hiervon war die Bedingung, daß er eine erſte gründliche Analyſe der Willensfreiheit vornahm; die- ſelbe zieht ſich durch ſeine ganze ſchriftſtelleriſche Thätigkeit hin- durch. Er ſtellt ſich dem Ariſtoteles ſelbſtändig gegenüber, welcher das Problem des Unterſchieds von Wille und Denken nicht zu- reichend behandelt habe 2), und thut den Schritt zu klarem Erfaſſen der ſich ſelbſt beſtimmenden Spontaneität 3). Dieſe iſt eine unmittelbar gegebene Thatſächlichkeit 4). Dieſelbe kann nicht geleugnet werden; denn die Zufälligkeit des Weltlaufs iſt augenſcheinlich, wer ſie beſtreitet, müßte gemartert werden, bis er zugeſteht, es ſei auch möglich, daß er nicht gemartert würde; dieſe Zufälligkeit weiſt aber auf eine freie Urſache. Die Thatſache des freien Willens kann andrerſeits nicht erklärt werden; denn 1) Ich benutze beſonders Duns Scotus in sent. I dist. 1 und 2; dist. 8 quaest. 5; dist. 39 beſonders quaest. 5; II dist. 25. 29. 43. 2) Duns Scotus in sent. I dist. 2 quaest. 7. 3) Vgl. mit Ariſtoteles S. 268 Duns Scotus in sent. II dist. 25 quaest. 1. 4) Duns Scotus in sent. I dist. 8 quaest. 5: et si quaeras, quare igitur voluntas divina magis determinatur ad unum contradictoriorum, quam ad alterum, respondeo: indisciplinati est, quaerere omnium causas et demonstrationem .. principii enim demonstrationis non est demonstratio: immediatum autem principium est, voluntatem velle hoc.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/432
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/432>, abgerufen am 18.05.2024.