Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Die arabischen Peripatetiker u. d. Theorie vom einheitlichen Verstande. und weiter des Parmenides etc. zurückreichen, und die Allgemein-gültigkeit der Sätze das Individuelle aufzuheben strebt. Dies Un- persönliche des Denkens erhält in dem Maße für die metaphysische Weltansicht größeres Gewicht, als das System der allgemeinen Begriffe und Wahrheiten im Geiste verselbständigt wird. Wird das Wesen des Menschengeistes im Denken gefunden, so fehlt ein Prinzip, welches dem Einzelgeiste seinen selbständigen Mittelpunkt sicherte; denn ein solches liegt nur in dem Lebensgefühl und dem Willen. Wenden wir diese allgemeinen Sätze an. Der Intellektualis- 1) Averroes destructio destructionum II disp. 3 fol. 145 (Venet. 1562): nam plurificatio numeralis individualis provenit ex materia. 2) Averroes de animae beatitudine c. 3 fol. 150 ff. 3) Destructio destructionum II disp. 2 fol. 144 K, Averroes zu
der ratio decima: igitur necesse est ut sit non generabilis, nec cor- ruptibilis, nec deperditur, cum deperdatur aliquod individuorum, in quibus invenitur ille. et ideo scientiae sunt aeternae et nec generabiles nec corruptibiles, nisi per accidens, scilicet ex copulatione earum Socrati et Platoni . . quoniam intellectui nihil est individuitatis. Die arabiſchen Peripatetiker u. d. Theorie vom einheitlichen Verſtande. und weiter des Parmenides etc. zurückreichen, und die Allgemein-gültigkeit der Sätze das Individuelle aufzuheben ſtrebt. Dies Un- perſönliche des Denkens erhält in dem Maße für die metaphyſiſche Weltanſicht größeres Gewicht, als das Syſtem der allgemeinen Begriffe und Wahrheiten im Geiſte verſelbſtändigt wird. Wird das Weſen des Menſchengeiſtes im Denken gefunden, ſo fehlt ein Prinzip, welches dem Einzelgeiſte ſeinen ſelbſtändigen Mittelpunkt ſicherte; denn ein ſolches liegt nur in dem Lebensgefühl und dem Willen. Wenden wir dieſe allgemeinen Sätze an. Der Intellektualis- 1) Averroes destructio destructionum II disp. 3 fol. 145 (Venet. 1562): nam plurificatio numeralis individualis provenit ex materia. 2) Averroes de animae beatitudine c. 3 fol. 150 ff. 3) Destructio destructionum II disp. 2 fol. 144 K, Averroes zu
der ratio decima: igitur necesse est ut sit non generabilis, nec cor- ruptibilis, nec deperditur, cum deperdatur aliquod individuorum, in quibus invenitur ille. et ideo scientiae sunt aeternae et nec generabiles nec corruptibiles, nisi per accidens, scilicet ex copulatione earum Socrati et Platoni . . quoniam intellectui nihil est individuitatis. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0428" n="405"/><fw place="top" type="header">Die arabiſchen Peripatetiker u. d. Theorie vom einheitlichen Verſtande.</fw><lb/> und weiter des Parmenides etc. zurückreichen, und die Allgemein-<lb/> gültigkeit der Sätze das Individuelle aufzuheben ſtrebt. Dies Un-<lb/> perſönliche des Denkens erhält in dem Maße für die metaphyſiſche<lb/> Weltanſicht größeres Gewicht, als das Syſtem der allgemeinen<lb/> Begriffe und Wahrheiten im Geiſte verſelbſtändigt wird. Wird<lb/> das Weſen des Menſchengeiſtes im Denken gefunden, ſo fehlt ein<lb/> Prinzip, welches dem Einzelgeiſte ſeinen ſelbſtändigen Mittelpunkt<lb/> ſicherte; denn ein ſolches liegt nur in dem Lebensgefühl und dem<lb/> Willen.</p><lb/> <p>Wenden wir dieſe allgemeinen Sätze an. Der Intellektualis-<lb/> mus der arabiſchen Peripatetiker, wie er in Ibn Roſchd ſeinen<lb/> Höhepunkt erreicht hat, findet in Vorgängen des Wiſſens das Band<lb/> des Weltzuſammenhangs, und ſelbſt die Vereinigung der Seele<lb/> mit Gott vollzieht ſich ihm in der Wiſſenſchaft. Ihm <hi rendition="#g">fehlt</hi> da-<lb/> her, in folgerichtigem Zuſammenhang mit dem Grundgedanken<lb/> der ariſtoteliſchen Vernunftwiſſenſchaft, <hi rendition="#g">für die geiſtige</hi> Welt<lb/> ein <hi rendition="#g">Prinzip der Individuation</hi><note place="foot" n="1)">Averroes <hi rendition="#aq">destructio destructionum II disp. 3 fol. 145 (Venet.<lb/> 1562): nam <hi rendition="#g">plurificatio numeralis individualis</hi> provenit ex<lb/><hi rendition="#g">materia.</hi></hi></note>; da in der Materie<lb/> ein ſolches nur für die ſinnlichen Einzelexiſtenzen gegeben iſt.<lb/> Ja Ibn Roſchd iſt ſich der <hi rendition="#g">Eigenſchaften des Denkens</hi>,<lb/> welche die Akte deſſelben in verſchiedenen Individuen innerlich<lb/> zu Einem Vernunftzuſammenhang <hi rendition="#g">verbinden</hi>, ſehr klar bewußt.<lb/> Er ſchließt daraus, daß das Denken das Unveränderliche zu<lb/> ſeinem Gegenſtande hat, es müſſe ſelber ewig ſein<note place="foot" n="2)">Averroes <hi rendition="#aq">de animae beatitudine c. 3 fol</hi>. 150 ff.</note>. In dem<lb/> über Entſtehung und Untergang der Individuen hinausgreifen-<lb/> den Zuſammenhang der Wiſſenſchaft iſt das Auftreten dieſes<lb/> oder jenes Denkers nur zufällig, der Verſtand ſelber iſt ewig<note place="foot" n="3)"><hi rendition="#aq">Destructio destructionum II disp. 2 fol. 144 <hi rendition="#k">K</hi></hi>, Averroes zu<lb/> der <hi rendition="#aq">ratio decima: igitur necesse est ut sit non generabilis, nec cor-<lb/> ruptibilis, nec deperditur, cum deperdatur aliquod individuorum, in<lb/> quibus invenitur ille. et ideo scientiae sunt aeternae et nec generabiles<lb/> nec corruptibiles, nisi per accidens, scilicet ex copulatione earum Socrati<lb/> et Platoni . . quoniam intellectui nihil est individuitatis.</hi></note>.<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [405/0428]
Die arabiſchen Peripatetiker u. d. Theorie vom einheitlichen Verſtande.
und weiter des Parmenides etc. zurückreichen, und die Allgemein-
gültigkeit der Sätze das Individuelle aufzuheben ſtrebt. Dies Un-
perſönliche des Denkens erhält in dem Maße für die metaphyſiſche
Weltanſicht größeres Gewicht, als das Syſtem der allgemeinen
Begriffe und Wahrheiten im Geiſte verſelbſtändigt wird. Wird
das Weſen des Menſchengeiſtes im Denken gefunden, ſo fehlt ein
Prinzip, welches dem Einzelgeiſte ſeinen ſelbſtändigen Mittelpunkt
ſicherte; denn ein ſolches liegt nur in dem Lebensgefühl und dem
Willen.
Wenden wir dieſe allgemeinen Sätze an. Der Intellektualis-
mus der arabiſchen Peripatetiker, wie er in Ibn Roſchd ſeinen
Höhepunkt erreicht hat, findet in Vorgängen des Wiſſens das Band
des Weltzuſammenhangs, und ſelbſt die Vereinigung der Seele
mit Gott vollzieht ſich ihm in der Wiſſenſchaft. Ihm fehlt da-
her, in folgerichtigem Zuſammenhang mit dem Grundgedanken
der ariſtoteliſchen Vernunftwiſſenſchaft, für die geiſtige Welt
ein Prinzip der Individuation 1); da in der Materie
ein ſolches nur für die ſinnlichen Einzelexiſtenzen gegeben iſt.
Ja Ibn Roſchd iſt ſich der Eigenſchaften des Denkens,
welche die Akte deſſelben in verſchiedenen Individuen innerlich
zu Einem Vernunftzuſammenhang verbinden, ſehr klar bewußt.
Er ſchließt daraus, daß das Denken das Unveränderliche zu
ſeinem Gegenſtande hat, es müſſe ſelber ewig ſein 2). In dem
über Entſtehung und Untergang der Individuen hinausgreifen-
den Zuſammenhang der Wiſſenſchaft iſt das Auftreten dieſes
oder jenes Denkers nur zufällig, der Verſtand ſelber iſt ewig 3).
1) Averroes destructio destructionum II disp. 3 fol. 145 (Venet.
1562): nam plurificatio numeralis individualis provenit ex
materia.
2) Averroes de animae beatitudine c. 3 fol. 150 ff.
3) Destructio destructionum II disp. 2 fol. 144 K, Averroes zu
der ratio decima: igitur necesse est ut sit non generabilis, nec cor-
ruptibilis, nec deperditur, cum deperdatur aliquod individuorum, in
quibus invenitur ille. et ideo scientiae sunt aeternae et nec generabiles
nec corruptibiles, nisi per accidens, scilicet ex copulatione earum Socrati
et Platoni . . quoniam intellectui nihil est individuitatis.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/428 |
Zitationshilfe: | Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/428>, abgerufen am 18.07.2024. |