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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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D. besond. Form d. Schlusses entspr. d. Naturbegriffen jed. Zeitalters.

Der Beweis für das Dasein Gottes aus dem gedanken-
mäßigen Zusammenhang der Vorgänge im Weltganzen hat uns
von Anaxagoras ab begleitet. Und zwar haben die Mittelglieder
gewechselt, durch welche in ihm aus der Anschauung der Welt auf
die Idee Gottes geschlossen wird. Denn sie wurden in einem
jeden Zeitalter durch diejenigen Begriffe von dem Zusammenhang
der Natur gebildet, welche der Stand der positiven Wissenschaften
entwickelt hatte. Die Funktion dieses Beweises in dem Körper
der Metaphysik einer Epoche ist also abhängig von der zu derselben
Zeit entwickelten Naturansicht. Dieses Grundverhältniß hat Kant's
ungeschichtlicher Geist verkannt, wie er denn überhaupt den ver-
geblichen Versuch machte, eine Metaphysik an sich aus den Systemen
zu ziehen, dabei aber in der Regel sich begnügte, die wolffischen
Kompendien durch Machtspruch für diese Metaphysik an sich zu
erklären. In Wirklichkeit hat jede Form des vom Kosmos auf
dessen Bedingung zurückgehenden Beweises für eine vernünftige
Weltursache nur einen relativen Erkenntnißwerth, nämlich in ihrer
Relation zu den anderen Naturbegriffen eines Zeitalters; und
auch die vollständige Begründung, welche nur im Zusammenhang
des Systems selber sich vollzieht und welche den für sich ganz
unzureichenden kosmologischen Schulbeweis mit dem physiko-theo-
logischen verbindet, hat keine hierüber hinausreichende Tragweite.
Sie kann nur zeigen, daß unter Voraussetzung der Begriffe,
welche der Erklärung der Wirklichkeit in einer gegebenen Zeit zu
Grunde gelegt werden, der Rückgang auf eine erste, zweckmäßig
wirkende Ursache nothwendig ist. Der Begriff Gottes ist in ihr
nur ein Glied in dem System der Bedingungen, welches den
Phänomenen zu ihrer Erklärung auf einer bestimmten Stufe der
Erkenntniß zu Grunde gelegt wird, und die Unentbehrlichkeit dieses
Gliedes ist abhängig von der Beziehung der Annahme auf andere
schon vorhandene Annahmen. So bedurfte Newton neben der
Gravitation eines Anstoßes, er bedurfte eines Grundes für die
Zweckmäßigkeit in den Abmessungen der Verhältnisse der Planeten-
bahnen; hierbei war die Gravitation nur ein Ausdruck für einen
Theil der Bedingungen, und der Gott, dessen er neben ihr zu be-

D. beſond. Form d. Schluſſes entſpr. d. Naturbegriffen jed. Zeitalters.

Der Beweis für das Daſein Gottes aus dem gedanken-
mäßigen Zuſammenhang der Vorgänge im Weltganzen hat uns
von Anaxagoras ab begleitet. Und zwar haben die Mittelglieder
gewechſelt, durch welche in ihm aus der Anſchauung der Welt auf
die Idee Gottes geſchloſſen wird. Denn ſie wurden in einem
jeden Zeitalter durch diejenigen Begriffe von dem Zuſammenhang
der Natur gebildet, welche der Stand der poſitiven Wiſſenſchaften
entwickelt hatte. Die Funktion dieſes Beweiſes in dem Körper
der Metaphyſik einer Epoche iſt alſo abhängig von der zu derſelben
Zeit entwickelten Naturanſicht. Dieſes Grundverhältniß hat Kant’s
ungeſchichtlicher Geiſt verkannt, wie er denn überhaupt den ver-
geblichen Verſuch machte, eine Metaphyſik an ſich aus den Syſtemen
zu ziehen, dabei aber in der Regel ſich begnügte, die wolffiſchen
Kompendien durch Machtſpruch für dieſe Metaphyſik an ſich zu
erklären. In Wirklichkeit hat jede Form des vom Kosmos auf
deſſen Bedingung zurückgehenden Beweiſes für eine vernünftige
Welturſache nur einen relativen Erkenntnißwerth, nämlich in ihrer
Relation zu den anderen Naturbegriffen eines Zeitalters; und
auch die vollſtändige Begründung, welche nur im Zuſammenhang
des Syſtems ſelber ſich vollzieht und welche den für ſich ganz
unzureichenden kosmologiſchen Schulbeweis mit dem phyſiko-theo-
logiſchen verbindet, hat keine hierüber hinausreichende Tragweite.
Sie kann nur zeigen, daß unter Vorausſetzung der Begriffe,
welche der Erklärung der Wirklichkeit in einer gegebenen Zeit zu
Grunde gelegt werden, der Rückgang auf eine erſte, zweckmäßig
wirkende Urſache nothwendig iſt. Der Begriff Gottes iſt in ihr
nur ein Glied in dem Syſtem der Bedingungen, welches den
Phänomenen zu ihrer Erklärung auf einer beſtimmten Stufe der
Erkenntniß zu Grunde gelegt wird, und die Unentbehrlichkeit dieſes
Gliedes iſt abhängig von der Beziehung der Annahme auf andere
ſchon vorhandene Annahmen. So bedurfte Newton neben der
Gravitation eines Anſtoßes, er bedurfte eines Grundes für die
Zweckmäßigkeit in den Abmeſſungen der Verhältniſſe der Planeten-
bahnen; hierbei war die Gravitation nur ein Ausdruck für einen
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[391/0414] D. beſond. Form d. Schluſſes entſpr. d. Naturbegriffen jed. Zeitalters. Der Beweis für das Daſein Gottes aus dem gedanken- mäßigen Zuſammenhang der Vorgänge im Weltganzen hat uns von Anaxagoras ab begleitet. Und zwar haben die Mittelglieder gewechſelt, durch welche in ihm aus der Anſchauung der Welt auf die Idee Gottes geſchloſſen wird. Denn ſie wurden in einem jeden Zeitalter durch diejenigen Begriffe von dem Zuſammenhang der Natur gebildet, welche der Stand der poſitiven Wiſſenſchaften entwickelt hatte. Die Funktion dieſes Beweiſes in dem Körper der Metaphyſik einer Epoche iſt alſo abhängig von der zu derſelben Zeit entwickelten Naturanſicht. Dieſes Grundverhältniß hat Kant’s ungeſchichtlicher Geiſt verkannt, wie er denn überhaupt den ver- geblichen Verſuch machte, eine Metaphyſik an ſich aus den Syſtemen zu ziehen, dabei aber in der Regel ſich begnügte, die wolffiſchen Kompendien durch Machtſpruch für dieſe Metaphyſik an ſich zu erklären. In Wirklichkeit hat jede Form des vom Kosmos auf deſſen Bedingung zurückgehenden Beweiſes für eine vernünftige Welturſache nur einen relativen Erkenntnißwerth, nämlich in ihrer Relation zu den anderen Naturbegriffen eines Zeitalters; und auch die vollſtändige Begründung, welche nur im Zuſammenhang des Syſtems ſelber ſich vollzieht und welche den für ſich ganz unzureichenden kosmologiſchen Schulbeweis mit dem phyſiko-theo- logiſchen verbindet, hat keine hierüber hinausreichende Tragweite. Sie kann nur zeigen, daß unter Vorausſetzung der Begriffe, welche der Erklärung der Wirklichkeit in einer gegebenen Zeit zu Grunde gelegt werden, der Rückgang auf eine erſte, zweckmäßig wirkende Urſache nothwendig iſt. Der Begriff Gottes iſt in ihr nur ein Glied in dem Syſtem der Bedingungen, welches den Phänomenen zu ihrer Erklärung auf einer beſtimmten Stufe der Erkenntniß zu Grunde gelegt wird, und die Unentbehrlichkeit dieſes Gliedes iſt abhängig von der Beziehung der Annahme auf andere ſchon vorhandene Annahmen. So bedurfte Newton neben der Gravitation eines Anſtoßes, er bedurfte eines Grundes für die Zweckmäßigkeit in den Abmeſſungen der Verhältniſſe der Planeten- bahnen; hierbei war die Gravitation nur ein Ausdruck für einen Theil der Bedingungen, und der Gott, deſſen er neben ihr zu be-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 391. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/414>, abgerufen am 18.05.2024.