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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
sänke auch der Wille ganz oder in seinem entsprechenden Bestand
oder Theil in sich zusammen. Dies tritt besonders deutlich in
der Formel der christlichen Scholastik hervor, nach welcher die
Erhaltung eine bloße Fortsetzung der Schöpfung ist 1). Da Gott
in der Schöpfung allein Alles wirkt, so ist er folgerichtig auch für
den menschlichen Willen in jedem Moment und gleichsam an jedem
Punkte desselben die wirkende, im Erhalten hervorbringende Ursache.

Diese Region des in die Widersprüche des Vorstellens
verwickelten Verstandes, seiner Ausflüchte und Distinktionen,
wird verlassen, wenn im Reiche der Mystik, der Sufis,
der Viktoriner und ihrer Nachfolger die gedankenklare Unter-
scheidung der einander gegenüberstehenden Willen Gottes und des
Menschen untergeht in dem Abgrunde der Gottheit. Aber auch
die Mystik und die sich an sie anschließende pantheistische Speku-
lation finden in der dunklen Tiefe eines lebendigen, den mensch-
lichen Willen einschließenden göttlichen Weltgrundes das uralte
Problem ungelöst wieder vor. Denn wenn dieser Weltgrund in
seiner freien quellenden Einheit den menschlichen Willen mitum-
schließt, dann ist zwar die Freiheit als ein Akt in Gott gerettet,
aber um so sicherer fällt die Schuld des Bösen in die Gott-
heit 2), um so unbegreiflicher wird das Gefühl der Selbständigkeit
des Individuums.


1) Die Erhaltung der Welt wird von älteren Scholastikern einfach
zur Schöpfung gerechnet; der oben entwickelte Satz ist bei Thomas überzeugend
in der summa theol. p. I qu. 103. 104 de gubernatione rerum etc., besonders
quaest. 104 art. 1 dargelegt: conservatio rerum a Deo non est per aliquam
novam actionem, sed per continuationem actionis, qua dat esse; quae
quidem actio est sine motu et tempore, sicut etiam conservatio luminis
in aere est per continuatum influxum a sole.
2) Daher auf diesem Standpunkt im Widerspruch mit dem sittlichen
Bewußtsein das Böse als relativ, die ganze Wirklichkeit als gut betrachtet
werden muß. Worte dürfen hier nicht täuschen. So lehren Scotus Eri-
gena (Abweichendes ist sicher Akkommodation), die bedeutendsten der Sufis
sowie der Mystiker des christlichen Mittelalters und sehr schön Jakob
Böhme: "In solcher hohen Betrachtung findet man, daß dieses Alles von
und aus Gott selber herkomme, und daß es seines eigenen Wesens sei,
das er selber ist, und er selber aus sich also geschaffen habe; und gehöret

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
ſänke auch der Wille ganz oder in ſeinem entſprechenden Beſtand
oder Theil in ſich zuſammen. Dies tritt beſonders deutlich in
der Formel der chriſtlichen Scholaſtik hervor, nach welcher die
Erhaltung eine bloße Fortſetzung der Schöpfung iſt 1). Da Gott
in der Schöpfung allein Alles wirkt, ſo iſt er folgerichtig auch für
den menſchlichen Willen in jedem Moment und gleichſam an jedem
Punkte deſſelben die wirkende, im Erhalten hervorbringende Urſache.

Dieſe Region des in die Widerſprüche des Vorſtellens
verwickelten Verſtandes, ſeiner Ausflüchte und Diſtinktionen,
wird verlaſſen, wenn im Reiche der Myſtik, der Sufis,
der Viktoriner und ihrer Nachfolger die gedankenklare Unter-
ſcheidung der einander gegenüberſtehenden Willen Gottes und des
Menſchen untergeht in dem Abgrunde der Gottheit. Aber auch
die Myſtik und die ſich an ſie anſchließende pantheiſtiſche Speku-
lation finden in der dunklen Tiefe eines lebendigen, den menſch-
lichen Willen einſchließenden göttlichen Weltgrundes das uralte
Problem ungelöſt wieder vor. Denn wenn dieſer Weltgrund in
ſeiner freien quellenden Einheit den menſchlichen Willen mitum-
ſchließt, dann iſt zwar die Freiheit als ein Akt in Gott gerettet,
aber um ſo ſicherer fällt die Schuld des Böſen in die Gott-
heit 2), um ſo unbegreiflicher wird das Gefühl der Selbſtändigkeit
des Individuums.


1) Die Erhaltung der Welt wird von älteren Scholaſtikern einfach
zur Schöpfung gerechnet; der oben entwickelte Satz iſt bei Thomas überzeugend
in der summa theol. p. I qu. 103. 104 de gubernatione rerum etc., beſonders
quaest. 104 art. 1 dargelegt: conservatio rerum a Deo non est per aliquam
novam actionem, sed per continuationem actionis, qua dat esse; quae
quidem actio est sine motu et tempore, sicut etiam conservatio luminis
in aere est per continuatum influxum a sole.
2) Daher auf dieſem Standpunkt im Widerſpruch mit dem ſittlichen
Bewußtſein das Böſe als relativ, die ganze Wirklichkeit als gut betrachtet
werden muß. Worte dürfen hier nicht täuſchen. So lehren Scotus Eri-
gena (Abweichendes iſt ſicher Akkommodation), die bedeutendſten der Sufis
ſowie der Myſtiker des chriſtlichen Mittelalters und ſehr ſchön Jakob
Böhme: „In ſolcher hohen Betrachtung findet man, daß dieſes Alles von
und aus Gott ſelber herkomme, und daß es ſeines eigenen Weſens ſei,
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[358/0381] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. ſänke auch der Wille ganz oder in ſeinem entſprechenden Beſtand oder Theil in ſich zuſammen. Dies tritt beſonders deutlich in der Formel der chriſtlichen Scholaſtik hervor, nach welcher die Erhaltung eine bloße Fortſetzung der Schöpfung iſt 1). Da Gott in der Schöpfung allein Alles wirkt, ſo iſt er folgerichtig auch für den menſchlichen Willen in jedem Moment und gleichſam an jedem Punkte deſſelben die wirkende, im Erhalten hervorbringende Urſache. Dieſe Region des in die Widerſprüche des Vorſtellens verwickelten Verſtandes, ſeiner Ausflüchte und Diſtinktionen, wird verlaſſen, wenn im Reiche der Myſtik, der Sufis, der Viktoriner und ihrer Nachfolger die gedankenklare Unter- ſcheidung der einander gegenüberſtehenden Willen Gottes und des Menſchen untergeht in dem Abgrunde der Gottheit. Aber auch die Myſtik und die ſich an ſie anſchließende pantheiſtiſche Speku- lation finden in der dunklen Tiefe eines lebendigen, den menſch- lichen Willen einſchließenden göttlichen Weltgrundes das uralte Problem ungelöſt wieder vor. Denn wenn dieſer Weltgrund in ſeiner freien quellenden Einheit den menſchlichen Willen mitum- ſchließt, dann iſt zwar die Freiheit als ein Akt in Gott gerettet, aber um ſo ſicherer fällt die Schuld des Böſen in die Gott- heit 2), um ſo unbegreiflicher wird das Gefühl der Selbſtändigkeit des Individuums. 1) Die Erhaltung der Welt wird von älteren Scholaſtikern einfach zur Schöpfung gerechnet; der oben entwickelte Satz iſt bei Thomas überzeugend in der summa theol. p. I qu. 103. 104 de gubernatione rerum etc., beſonders quaest. 104 art. 1 dargelegt: conservatio rerum a Deo non est per aliquam novam actionem, sed per continuationem actionis, qua dat esse; quae quidem actio est sine motu et tempore, sicut etiam conservatio luminis in aere est per continuatum influxum a sole. 2) Daher auf dieſem Standpunkt im Widerſpruch mit dem ſittlichen Bewußtſein das Böſe als relativ, die ganze Wirklichkeit als gut betrachtet werden muß. Worte dürfen hier nicht täuſchen. So lehren Scotus Eri- gena (Abweichendes iſt ſicher Akkommodation), die bedeutendſten der Sufis ſowie der Myſtiker des chriſtlichen Mittelalters und ſehr ſchön Jakob Böhme: „In ſolcher hohen Betrachtung findet man, daß dieſes Alles von und aus Gott ſelber herkomme, und daß es ſeines eigenen Weſens ſei, das er ſelber iſt, und er ſelber aus ſich alſo geſchaffen habe; und gehöret

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/381>, abgerufen am 22.11.2024.