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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
diesen Parteien betrachtete den menschlichen Verstand als Maß-
stab des Glaubensinhaltes, und die Unterschiede in ihr waren
vorzugsweise durch den Grad von Selbstvertrauen bedingt, mit
welchem dieser Verstand auftrat. So kann sie als Rationalismus
bezeichnet werden. Sie empfing ihre Macht nicht allein aus dem
Trieb des Erkennens, welcher zumal im zwölften Jahrhundert zur
Leidenschaft anwuchs; auch der Zwiespalt der Autoritäten über die
Glaubensgeheimnisse konnte von Abälard in seiner Schrift "Ja und
Nein" kühn und geschickt zu Gunsten der Entscheidung von Glaubens-
fragen durch den Verstand verwerthet werden, und der Streit einer
Mehrheit monotheistischer Religionen machte die schließliche Geltung
derselben von dem Richterspruch des Denkens abhängig, die Ge-
spräche zwischen den Repräsentanten der verschiedenen Religionen, wie
der Kusari und der Abälard'sche Dialog zwischen einem Philosophen,
einem Juden und einem Christen, lassen die Macht dieses thatsäch-
lichen Verhältnisses erkennen. So konnte der Vervollständigung
des Materials für die Kenntniß der aristotelischen Logik eine dialek-
tische Bewegung folgen, deren negative Ergebnisse viele Zeitgenossen
erschreckten 1). Der Glaubensinhalt wurde schon als eine Anticipation
der Vernunfterkenntniß angesehen 2), und die Frage trat auf: wenn
die Lehrsätze des Christenthums einer rationalen Behandlung zu-
gänglich sind, warum bedurfte es der Offenbarung?


1) Für die angegebene Bedeutung der Schrift Sic et non von Abälard
ist der Schluß des Prologs entscheidend. Im Uebrigen vgl. die aus Johann
von Salisbury, Richard von St. Viktor, Abälard u. a. entnommene Schil-
derung der rationalistischen Fraktionen bei Reuter, Geschichte der Auf-
klärung I, 168 ff.
2) Dies war die Consequenz der zuletzt erwähnten Richtung. Sie kann
aus der bekannten Formel des Scotus Erigena de divisione I c. 66 p. 511 B
(Floß) abgeleitet werden. Doch ist weder der Rationalismus des Scotus
Erigena noch der Abälard's unbeschränkt. Die Theorie, welche sich bei beiden
findet und welche die Beziehung der Begriffe und Urtheile des Verstandes
auf die endliche Wirklichkeit einschränkt, die zu bezeichnen sie bestimmt seien,
(wie denn der Satz in dem unentbehrlichen Verbum die Zeitlichkeit als
Schranke einschließe), ist ein Versuch, die wirkliche Transscendenz Gottes
gegen die Rationalisten zu vertheidigen. Vgl. Abälard theologia christ.
l. III, p. 1246 B. 1247 B
(Migne) nebst der Parallelstelle der introductio
und Scotus Erigena de divisione I c. 15 ff. 463 B. c. 73 p. 518 B.

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
dieſen Parteien betrachtete den menſchlichen Verſtand als Maß-
ſtab des Glaubensinhaltes, und die Unterſchiede in ihr waren
vorzugsweiſe durch den Grad von Selbſtvertrauen bedingt, mit
welchem dieſer Verſtand auftrat. So kann ſie als Rationalismus
bezeichnet werden. Sie empfing ihre Macht nicht allein aus dem
Trieb des Erkennens, welcher zumal im zwölften Jahrhundert zur
Leidenſchaft anwuchs; auch der Zwieſpalt der Autoritäten über die
Glaubensgeheimniſſe konnte von Abälard in ſeiner Schrift „Ja und
Nein“ kühn und geſchickt zu Gunſten der Entſcheidung von Glaubens-
fragen durch den Verſtand verwerthet werden, und der Streit einer
Mehrheit monotheiſtiſcher Religionen machte die ſchließliche Geltung
derſelben von dem Richterſpruch des Denkens abhängig, die Ge-
ſpräche zwiſchen den Repräſentanten der verſchiedenen Religionen, wie
der Kuſari und der Abälard’ſche Dialog zwiſchen einem Philoſophen,
einem Juden und einem Chriſten, laſſen die Macht dieſes thatſäch-
lichen Verhältniſſes erkennen. So konnte der Vervollſtändigung
des Materials für die Kenntniß der ariſtoteliſchen Logik eine dialek-
tiſche Bewegung folgen, deren negative Ergebniſſe viele Zeitgenoſſen
erſchreckten 1). Der Glaubensinhalt wurde ſchon als eine Anticipation
der Vernunfterkenntniß angeſehen 2), und die Frage trat auf: wenn
die Lehrſätze des Chriſtenthums einer rationalen Behandlung zu-
gänglich ſind, warum bedurfte es der Offenbarung?


1) Für die angegebene Bedeutung der Schrift Sic et non von Abälard
iſt der Schluß des Prologs entſcheidend. Im Uebrigen vgl. die aus Johann
von Salisbury, Richard von St. Viktor, Abälard u. a. entnommene Schil-
derung der rationaliſtiſchen Fraktionen bei Reuter, Geſchichte der Auf-
klärung I, 168 ff.
2) Dies war die Conſequenz der zuletzt erwähnten Richtung. Sie kann
aus der bekannten Formel des Scotus Erigena de divisione I c. 66 p. 511 B
(Floß) abgeleitet werden. Doch iſt weder der Rationalismus des Scotus
Erigena noch der Abälard’s unbeſchränkt. Die Theorie, welche ſich bei beiden
findet und welche die Beziehung der Begriffe und Urtheile des Verſtandes
auf die endliche Wirklichkeit einſchränkt, die zu bezeichnen ſie beſtimmt ſeien,
(wie denn der Satz in dem unentbehrlichen Verbum die Zeitlichkeit als
Schranke einſchließe), iſt ein Verſuch, die wirkliche Transſcendenz Gottes
gegen die Rationaliſten zu vertheidigen. Vgl. Abälard theologia christ.
l. III, p. 1246 B. 1247 B
(Migne) nebſt der Parallelſtelle der introductio
und Scotus Erigena de divisione I c. 15 ff. 463 B. c. 73 p. 518 B.
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[348/0371] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. dieſen Parteien betrachtete den menſchlichen Verſtand als Maß- ſtab des Glaubensinhaltes, und die Unterſchiede in ihr waren vorzugsweiſe durch den Grad von Selbſtvertrauen bedingt, mit welchem dieſer Verſtand auftrat. So kann ſie als Rationalismus bezeichnet werden. Sie empfing ihre Macht nicht allein aus dem Trieb des Erkennens, welcher zumal im zwölften Jahrhundert zur Leidenſchaft anwuchs; auch der Zwieſpalt der Autoritäten über die Glaubensgeheimniſſe konnte von Abälard in ſeiner Schrift „Ja und Nein“ kühn und geſchickt zu Gunſten der Entſcheidung von Glaubens- fragen durch den Verſtand verwerthet werden, und der Streit einer Mehrheit monotheiſtiſcher Religionen machte die ſchließliche Geltung derſelben von dem Richterſpruch des Denkens abhängig, die Ge- ſpräche zwiſchen den Repräſentanten der verſchiedenen Religionen, wie der Kuſari und der Abälard’ſche Dialog zwiſchen einem Philoſophen, einem Juden und einem Chriſten, laſſen die Macht dieſes thatſäch- lichen Verhältniſſes erkennen. So konnte der Vervollſtändigung des Materials für die Kenntniß der ariſtoteliſchen Logik eine dialek- tiſche Bewegung folgen, deren negative Ergebniſſe viele Zeitgenoſſen erſchreckten 1). Der Glaubensinhalt wurde ſchon als eine Anticipation der Vernunfterkenntniß angeſehen 2), und die Frage trat auf: wenn die Lehrſätze des Chriſtenthums einer rationalen Behandlung zu- gänglich ſind, warum bedurfte es der Offenbarung? 1) Für die angegebene Bedeutung der Schrift Sic et non von Abälard iſt der Schluß des Prologs entſcheidend. Im Uebrigen vgl. die aus Johann von Salisbury, Richard von St. Viktor, Abälard u. a. entnommene Schil- derung der rationaliſtiſchen Fraktionen bei Reuter, Geſchichte der Auf- klärung I, 168 ff. 2) Dies war die Conſequenz der zuletzt erwähnten Richtung. Sie kann aus der bekannten Formel des Scotus Erigena de divisione I c. 66 p. 511 B (Floß) abgeleitet werden. Doch iſt weder der Rationalismus des Scotus Erigena noch der Abälard’s unbeſchränkt. Die Theorie, welche ſich bei beiden findet und welche die Beziehung der Begriffe und Urtheile des Verſtandes auf die endliche Wirklichkeit einſchränkt, die zu bezeichnen ſie beſtimmt ſeien, (wie denn der Satz in dem unentbehrlichen Verbum die Zeitlichkeit als Schranke einſchließe), iſt ein Verſuch, die wirkliche Transſcendenz Gottes gegen die Rationaliſten zu vertheidigen. Vgl. Abälard theologia christ. l. III, p. 1246 B. 1247 B (Migne) nebſt der Parallelſtelle der introductio und Scotus Erigena de divisione I c. 15 ff. 463 B. c. 73 p. 518 B.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/371>, abgerufen am 22.11.2024.