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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Bearbeitung des Glaubensinhaltes in der Theologie.
punkt alles systematischen Denkens. Im christlichen Abendlande
währte diese Zeit länger als bei den Völkern des Islam; von
Alcuin und dem achten Jahrhundert reichte sie hier bis zum Ende
des zwölften Jahrhunderts.

Während dieser vier Jahrhunderte machten sich die möglichen
Stellungen des Glaubensinhaltes zum Verstande gel-
tend, wie sie bis heute fortdauern. Die in der Hierarchie herrschende
Partei betrachtete den Glaubensinhalt als eine der Vernunft un-
erreichbare und unserer verderbten Natur in der Offenbarung autori-
tativ gegenübertretende Thatsächlichkeit. Gemäß der dargelegten
Beziehung zwischen dem Offenbarungsglauben und der inneren Er-
fahrung verband sich dieser Standpunkt mit dem zweiten, welcher
die im Christenthum angelegte Erkenntniß entwickelte, daß die
inneren religiösen Erfahrungen in einem verstandesmäßigen Zu-
sammenhang nicht dargestellt werden können 1). Doch trat diese
zweite Stellung zum Glaubensinhalt auch mehr losgelöst vom
Autoritätsprinzip auf, insbesondere in den mystischen Schulen.
Eine dritte Partei hatte ihren wichtigsten Repräsentanten während
dieses Zeitraums in Anselm. Die Voraussetzungen derselben
lagen ebenfalls in Augustinus. Sie vereinigte in schwer zu
fassendem Tiefsinn die beiden Seiten des mittelalterlichen Denkens:
in jedem, auch dem tiefsten Geheimniß des Glaubens ist ein Ver-
nunftzusammenhang, und er könnte der göttlichen Vernunft nach-
gedacht werden, wenn die Gedanken der Menschen den Gottes zu
erreichen die Kraft hätten; aber dieser Zusammenhang wird allein
unter der Voraussetzung des Glaubens erblickt 2). Die letzte unter

1) Diese Verbindung der beiden Standpunkte (für deren ersteren Belege
überflüssig sind) findet man in dem bekannten Worte des Bernhard von
Clairvaux: "quid enim magis contra rationem, quam ratione rationem
conari transcendere? Et quid magis contra fidem, quam credere nolle,
quicquid non possis ratione attingere? "
-- Zur zweiten Partei vgl. z. B.
Hugo von St. Viktor de sacram. I pars 10 c. 2.
2) Anselm de fide trinitatis praefatio und c. 1. 2; de concordia
praescientiae Dei cum libero arbitrio, qu. III c. 6
. Die Lösung der schein-
baren Widersprüche liegt bei Anselm in der Voraussetzung, daß auch das
unerreichbare Glaubensgeheimniß in Gott Vernunftzusammenhang ist. Wie
Anselm hierdurch sich von den Mystikern sondert, berührt er sich andrerseits
hierin mit Scotus Erigena und Abälard. Vgl. Eadmer Vita S. Anselmi I c. 9.

Bearbeitung des Glaubensinhaltes in der Theologie.
punkt alles ſyſtematiſchen Denkens. Im chriſtlichen Abendlande
währte dieſe Zeit länger als bei den Völkern des Islam; von
Alcuin und dem achten Jahrhundert reichte ſie hier bis zum Ende
des zwölften Jahrhunderts.

Während dieſer vier Jahrhunderte machten ſich die möglichen
Stellungen des Glaubensinhaltes zum Verſtande gel-
tend, wie ſie bis heute fortdauern. Die in der Hierarchie herrſchende
Partei betrachtete den Glaubensinhalt als eine der Vernunft un-
erreichbare und unſerer verderbten Natur in der Offenbarung autori-
tativ gegenübertretende Thatſächlichkeit. Gemäß der dargelegten
Beziehung zwiſchen dem Offenbarungsglauben und der inneren Er-
fahrung verband ſich dieſer Standpunkt mit dem zweiten, welcher
die im Chriſtenthum angelegte Erkenntniß entwickelte, daß die
inneren religiöſen Erfahrungen in einem verſtandesmäßigen Zu-
ſammenhang nicht dargeſtellt werden können 1). Doch trat dieſe
zweite Stellung zum Glaubensinhalt auch mehr losgelöſt vom
Autoritätsprinzip auf, insbeſondere in den myſtiſchen Schulen.
Eine dritte Partei hatte ihren wichtigſten Repräſentanten während
dieſes Zeitraums in Anſelm. Die Vorausſetzungen derſelben
lagen ebenfalls in Auguſtinus. Sie vereinigte in ſchwer zu
faſſendem Tiefſinn die beiden Seiten des mittelalterlichen Denkens:
in jedem, auch dem tiefſten Geheimniß des Glaubens iſt ein Ver-
nunftzuſammenhang, und er könnte der göttlichen Vernunft nach-
gedacht werden, wenn die Gedanken der Menſchen den Gottes zu
erreichen die Kraft hätten; aber dieſer Zuſammenhang wird allein
unter der Vorausſetzung des Glaubens erblickt 2). Die letzte unter

1) Dieſe Verbindung der beiden Standpunkte (für deren erſteren Belege
überflüſſig ſind) findet man in dem bekannten Worte des Bernhard von
Clairvaux: „quid enim magis contra rationem, quam ratione rationem
conari transcendere? Et quid magis contra fidem, quam credere nolle,
quicquid non possis ratione attingere? “
— Zur zweiten Partei vgl. z. B.
Hugo von St. Viktor de sacram. I pars 10 c. 2.
2) Anſelm de fide trinitatis praefatio und c. 1. 2; de concordia
praescientiae Dei cum libero arbitrio, qu. III c. 6
. Die Löſung der ſchein-
baren Widerſprüche liegt bei Anſelm in der Vorausſetzung, daß auch das
unerreichbare Glaubensgeheimniß in Gott Vernunftzuſammenhang iſt. Wie
Anſelm hierdurch ſich von den Myſtikern ſondert, berührt er ſich andrerſeits
hierin mit Scotus Erigena und Abälard. Vgl. Eadmer Vita S. Anselmi I c. 9.
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[347/0370] Bearbeitung des Glaubensinhaltes in der Theologie. punkt alles ſyſtematiſchen Denkens. Im chriſtlichen Abendlande währte dieſe Zeit länger als bei den Völkern des Islam; von Alcuin und dem achten Jahrhundert reichte ſie hier bis zum Ende des zwölften Jahrhunderts. Während dieſer vier Jahrhunderte machten ſich die möglichen Stellungen des Glaubensinhaltes zum Verſtande gel- tend, wie ſie bis heute fortdauern. Die in der Hierarchie herrſchende Partei betrachtete den Glaubensinhalt als eine der Vernunft un- erreichbare und unſerer verderbten Natur in der Offenbarung autori- tativ gegenübertretende Thatſächlichkeit. Gemäß der dargelegten Beziehung zwiſchen dem Offenbarungsglauben und der inneren Er- fahrung verband ſich dieſer Standpunkt mit dem zweiten, welcher die im Chriſtenthum angelegte Erkenntniß entwickelte, daß die inneren religiöſen Erfahrungen in einem verſtandesmäßigen Zu- ſammenhang nicht dargeſtellt werden können 1). Doch trat dieſe zweite Stellung zum Glaubensinhalt auch mehr losgelöſt vom Autoritätsprinzip auf, insbeſondere in den myſtiſchen Schulen. Eine dritte Partei hatte ihren wichtigſten Repräſentanten während dieſes Zeitraums in Anſelm. Die Vorausſetzungen derſelben lagen ebenfalls in Auguſtinus. Sie vereinigte in ſchwer zu faſſendem Tiefſinn die beiden Seiten des mittelalterlichen Denkens: in jedem, auch dem tiefſten Geheimniß des Glaubens iſt ein Ver- nunftzuſammenhang, und er könnte der göttlichen Vernunft nach- gedacht werden, wenn die Gedanken der Menſchen den Gottes zu erreichen die Kraft hätten; aber dieſer Zuſammenhang wird allein unter der Vorausſetzung des Glaubens erblickt 2). Die letzte unter 1) Dieſe Verbindung der beiden Standpunkte (für deren erſteren Belege überflüſſig ſind) findet man in dem bekannten Worte des Bernhard von Clairvaux: „quid enim magis contra rationem, quam ratione rationem conari transcendere? Et quid magis contra fidem, quam credere nolle, quicquid non possis ratione attingere? “ — Zur zweiten Partei vgl. z. B. Hugo von St. Viktor de sacram. I pars 10 c. 2. 2) Anſelm de fide trinitatis praefatio und c. 1. 2; de concordia praescientiae Dei cum libero arbitrio, qu. III c. 6. Die Löſung der ſchein- baren Widerſprüche liegt bei Anſelm in der Vorausſetzung, daß auch das unerreichbare Glaubensgeheimniß in Gott Vernunftzuſammenhang iſt. Wie Anſelm hierdurch ſich von den Myſtikern ſondert, berührt er ſich andrerſeits hierin mit Scotus Erigena und Abälard. Vgl. Eadmer Vita S. Anselmi I c. 9.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/370>, abgerufen am 17.05.2024.