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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Gott als Wahrheit und Gott als höchstes Gut.

Insbesondere aber aus der Selbstbesinnung über die That-
sachen des Willens hat Augustinus seine metaphysische Ordnung
gefolgert. Hinter diese Erfahrungen des Willens ist ihm das
theoretische Verhalten des Menschen immer mehr zurückgetreten.
Indem er in dem Urtheil das Element der Zustimmung des
Willens heraushebt, ordnet er das Wissen selber dem Willen unter 1),
das Wissen ist in diesem Verstande Glaube. Durch einen solchen
Glauben sind wir zunächst der Außenwelt gewiß, insofern wir uns
praktisch verhalten 2); dann finden wir uns in demselben Zusammen-
hang des praktischen Verhaltens, in der Richtung auf ein höchstes
Gut, dasselbe ist als ein unsichtbares nur im Glauben, als ein
nichtgegenwärtiges in der Hoffnung für uns da 3). War in dem
oben entwickelten Zusammenhang Gott als der Ort der veritates
aeternae
gewiß, so ist er es hier als das höchste Gut 4).
Daher sind wir in diesem Glauben derjenigen Realität der Welt
wie der Gottes sicher.

So ist die Selbstbesinnung des Augustinus nur der
Ausgangspunkt für eine neue Metaphysik. Und in dem
Inneren dieser Metaphysik ist schon der Kampf zwischen den
veritates aeternae, in welchen der Intellekt die Gedanken-
mäßigkeit der Welt besitzt, und dem Willen Gottes, der dem
praktischen Verhalten des Menschen gewiß ist. Denn wo Wille
ist, da ist eine Reihe von Veränderungen, welche durch ein Ziel
bestimmt ist. Augustinus möchte das lebendige Verhältniß Gottes
zur Menschheit, seinen Plan in der Geschichte ergründen 5) und
doch zugleich die Unveränderlichkeit Gottes festhalten: erfüllt von
dem antiken Gedanken, daß alle Veränderlichkeit Vergänglichkeit
einschließt.


1) Augustinus de trinitate XI c. 6.
2) De civ. Dei XIX c. 18: civitas Dei talem dubitationem tanquam
dementiam detestatur ... creditque sensibus in rei cuiusque evidentia, qui-
bus per corpus animus utitur, quoniam miserabilius fallitur, qui nunquam
putat eis esse credendum.
3) Vgl. die schöne Darstellung der Lehre vom höchsten Gut de civ.
Dei XIX c.
3 und 4.
4) Zu der zuletzt angezogenen Stelle ebds. VIII c. 8.
5) De civ. Dei V c. 10 und 11.
Gott als Wahrheit und Gott als höchſtes Gut.

Insbeſondere aber aus der Selbſtbeſinnung über die That-
ſachen des Willens hat Auguſtinus ſeine metaphyſiſche Ordnung
gefolgert. Hinter dieſe Erfahrungen des Willens iſt ihm das
theoretiſche Verhalten des Menſchen immer mehr zurückgetreten.
Indem er in dem Urtheil das Element der Zuſtimmung des
Willens heraushebt, ordnet er das Wiſſen ſelber dem Willen unter 1),
das Wiſſen iſt in dieſem Verſtande Glaube. Durch einen ſolchen
Glauben ſind wir zunächſt der Außenwelt gewiß, inſofern wir uns
praktiſch verhalten 2); dann finden wir uns in demſelben Zuſammen-
hang des praktiſchen Verhaltens, in der Richtung auf ein höchſtes
Gut, dasſelbe iſt als ein unſichtbares nur im Glauben, als ein
nichtgegenwärtiges in der Hoffnung für uns da 3). War in dem
oben entwickelten Zuſammenhang Gott als der Ort der veritates
aeternae
gewiß, ſo iſt er es hier als das höchſte Gut 4).
Daher ſind wir in dieſem Glauben derjenigen Realität der Welt
wie der Gottes ſicher.

So iſt die Selbſtbeſinnung des Auguſtinus nur der
Ausgangspunkt für eine neue Metaphyſik. Und in dem
Inneren dieſer Metaphyſik iſt ſchon der Kampf zwiſchen den
veritates aeternae, in welchen der Intellekt die Gedanken-
mäßigkeit der Welt beſitzt, und dem Willen Gottes, der dem
praktiſchen Verhalten des Menſchen gewiß iſt. Denn wo Wille
iſt, da iſt eine Reihe von Veränderungen, welche durch ein Ziel
beſtimmt iſt. Auguſtinus möchte das lebendige Verhältniß Gottes
zur Menſchheit, ſeinen Plan in der Geſchichte ergründen 5) und
doch zugleich die Unveränderlichkeit Gottes feſthalten: erfüllt von
dem antiken Gedanken, daß alle Veränderlichkeit Vergänglichkeit
einſchließt.


1) Auguſtinus de trinitate XI c. 6.
2) De civ. Dei XIX c. 18: civitas Dei talem dubitationem tanquam
dementiam detestatur … creditque sensibus in rei cuiusque evidentia, qui-
bus per corpus animus utitur, quoniam miserabilius fallitur, qui nunquam
putat eis esse credendum.
3) Vgl. die ſchöne Darſtellung der Lehre vom höchſten Gut de civ.
Dei XIX c.
3 und 4.
4) Zu der zuletzt angezogenen Stelle ebdſ. VIII c. 8.
5) De civ. Dei V c. 10 und 11.
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[333/0356] Gott als Wahrheit und Gott als höchſtes Gut. Insbeſondere aber aus der Selbſtbeſinnung über die That- ſachen des Willens hat Auguſtinus ſeine metaphyſiſche Ordnung gefolgert. Hinter dieſe Erfahrungen des Willens iſt ihm das theoretiſche Verhalten des Menſchen immer mehr zurückgetreten. Indem er in dem Urtheil das Element der Zuſtimmung des Willens heraushebt, ordnet er das Wiſſen ſelber dem Willen unter 1), das Wiſſen iſt in dieſem Verſtande Glaube. Durch einen ſolchen Glauben ſind wir zunächſt der Außenwelt gewiß, inſofern wir uns praktiſch verhalten 2); dann finden wir uns in demſelben Zuſammen- hang des praktiſchen Verhaltens, in der Richtung auf ein höchſtes Gut, dasſelbe iſt als ein unſichtbares nur im Glauben, als ein nichtgegenwärtiges in der Hoffnung für uns da 3). War in dem oben entwickelten Zuſammenhang Gott als der Ort der veritates aeternae gewiß, ſo iſt er es hier als das höchſte Gut 4). Daher ſind wir in dieſem Glauben derjenigen Realität der Welt wie der Gottes ſicher. So iſt die Selbſtbeſinnung des Auguſtinus nur der Ausgangspunkt für eine neue Metaphyſik. Und in dem Inneren dieſer Metaphyſik iſt ſchon der Kampf zwiſchen den veritates aeternae, in welchen der Intellekt die Gedanken- mäßigkeit der Welt beſitzt, und dem Willen Gottes, der dem praktiſchen Verhalten des Menſchen gewiß iſt. Denn wo Wille iſt, da iſt eine Reihe von Veränderungen, welche durch ein Ziel beſtimmt iſt. Auguſtinus möchte das lebendige Verhältniß Gottes zur Menſchheit, ſeinen Plan in der Geſchichte ergründen 5) und doch zugleich die Unveränderlichkeit Gottes feſthalten: erfüllt von dem antiken Gedanken, daß alle Veränderlichkeit Vergänglichkeit einſchließt. 1) Auguſtinus de trinitate XI c. 6. 2) De civ. Dei XIX c. 18: civitas Dei talem dubitationem tanquam dementiam detestatur … creditque sensibus in rei cuiusque evidentia, qui- bus per corpus animus utitur, quoniam miserabilius fallitur, qui nunquam putat eis esse credendum. 3) Vgl. die ſchöne Darſtellung der Lehre vom höchſten Gut de civ. Dei XIX c. 3 und 4. 4) Zu der zuletzt angezogenen Stelle ebdſ. VIII c. 8. 5) De civ. Dei V c. 10 und 11.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/356>, abgerufen am 17.05.2024.