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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
Objekte benutzt, wie die Elemente des Naturlaufs: vielmehr "soll
der Geist sich nicht wie etwas ihm Fremdes suchen, sondern
die Intention des Willens, mit der er unter den Außendingen
umherirrte, auf sich selbst richten." "Und er wolle sich nicht er-
kennen wie etwas, von dem er nicht weiß, sondern unterscheide sich
nur von dem, was er als das Andere kennt." Der Geist besitzt und
weiß sich ganz, und auch indem er sich zu erkennen sucht, weiß er sich
schon ganz. Dies sein Wissen von ihm selber entspricht mehr den An-
forderungen an wissenschaftliche Wahrheit als das von der äußeren
Natur. -- Die in diesen Sätzen enthaltene, tiefe erkenntnißtheoretische
Wahrheit wird nun von Augustinus zu folgendem Schluß benutzt.
Wir werden unser selber inne, indem wir Denken, Erinnern, Wollen
als unsere Akte auffassen, und in dem Gewahrwerden derselben
haben wir ein wahres Wissen über uns. Nun heißt, ein wahres
Wissen von etwas haben, dessen Substanz erkennen. Sonach er-
kennen wir die Substanz der Seele 1). -- Liegt in der Einführung
des Begriffs der Substanz eine unhaltbare und in diesem Zu-
sammenhang unnöthige Benutzung der Metaphysik, so wird andrer-
seits von ihm der Nachweis, daß dieses Seelenleben nicht als eine
Leistung der Materie betrachtet werden könne, nach richtiger Me-
thode geführt. Aus der Analysis des Seelenlebens wird abge-
leitet, daß die Eigenschaften desselben auf körperliche Elemente
nicht zurückgeführt werden dürfen 2). Nur daß auch hier sofort
der dogmatische Begriff der Seelensubstanz sich einstellt. -- Aus der
Verkettung dieser Schlüsse ergiebt sich endlich: die Seele kann
nicht auf die materielle Naturordnung zurückgeführt werden, je-
doch muß sie als veränderlich einen unveränderlichen Grund haben,
sonach ist Gott die Ursache der Seele wie der veränderlichen
Welt überhaupt, die Seele ist von Gott geschaffen; denn was
nicht seine Unveränderlichkeit theilt, kann nicht ein Theil der Sub-
stanz Gottes sein 3).


1) Die wichtigsten Stellen finden sich im zehnten Buche der Schrift de
trinitate.
Vgl. de Genesi ad litt. VII c. 21.
2) De Gen. ad litt. VII c. 20. 21; de vera religione c. 29; de
libero arbitrio II c.
3 ff.
3) Sermo 241 c. 2, epist. 166 c. 2, de vera relig. c. 30. 31.

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Objekte benutzt, wie die Elemente des Naturlaufs: vielmehr „ſoll
der Geiſt ſich nicht wie etwas ihm Fremdes ſuchen, ſondern
die Intention des Willens, mit der er unter den Außendingen
umherirrte, auf ſich ſelbſt richten.“ „Und er wolle ſich nicht er-
kennen wie etwas, von dem er nicht weiß, ſondern unterſcheide ſich
nur von dem, was er als das Andere kennt.“ Der Geiſt beſitzt und
weiß ſich ganz, und auch indem er ſich zu erkennen ſucht, weiß er ſich
ſchon ganz. Dies ſein Wiſſen von ihm ſelber entſpricht mehr den An-
forderungen an wiſſenſchaftliche Wahrheit als das von der äußeren
Natur. — Die in dieſen Sätzen enthaltene, tiefe erkenntnißtheoretiſche
Wahrheit wird nun von Auguſtinus zu folgendem Schluß benutzt.
Wir werden unſer ſelber inne, indem wir Denken, Erinnern, Wollen
als unſere Akte auffaſſen, und in dem Gewahrwerden derſelben
haben wir ein wahres Wiſſen über uns. Nun heißt, ein wahres
Wiſſen von etwas haben, deſſen Subſtanz erkennen. Sonach er-
kennen wir die Subſtanz der Seele 1). — Liegt in der Einführung
des Begriffs der Subſtanz eine unhaltbare und in dieſem Zu-
ſammenhang unnöthige Benutzung der Metaphyſik, ſo wird andrer-
ſeits von ihm der Nachweis, daß dieſes Seelenleben nicht als eine
Leiſtung der Materie betrachtet werden könne, nach richtiger Me-
thode geführt. Aus der Analyſis des Seelenlebens wird abge-
leitet, daß die Eigenſchaften deſſelben auf körperliche Elemente
nicht zurückgeführt werden dürfen 2). Nur daß auch hier ſofort
der dogmatiſche Begriff der Seelenſubſtanz ſich einſtellt. — Aus der
Verkettung dieſer Schlüſſe ergiebt ſich endlich: die Seele kann
nicht auf die materielle Naturordnung zurückgeführt werden, je-
doch muß ſie als veränderlich einen unveränderlichen Grund haben,
ſonach iſt Gott die Urſache der Seele wie der veränderlichen
Welt überhaupt, die Seele iſt von Gott geſchaffen; denn was
nicht ſeine Unveränderlichkeit theilt, kann nicht ein Theil der Sub-
ſtanz Gottes ſein 3).


1) Die wichtigſten Stellen finden ſich im zehnten Buche der Schrift de
trinitate.
Vgl. de Genesi ad litt. VII c. 21.
2) De Gen. ad litt. VII c. 20. 21; de vera religione c. 29; de
libero arbitrio II c.
3 ff.
3) Sermo 241 c. 2, epist. 166 c. 2, de vera relig. c. 30. 31.
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[332/0355] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. Objekte benutzt, wie die Elemente des Naturlaufs: vielmehr „ſoll der Geiſt ſich nicht wie etwas ihm Fremdes ſuchen, ſondern die Intention des Willens, mit der er unter den Außendingen umherirrte, auf ſich ſelbſt richten.“ „Und er wolle ſich nicht er- kennen wie etwas, von dem er nicht weiß, ſondern unterſcheide ſich nur von dem, was er als das Andere kennt.“ Der Geiſt beſitzt und weiß ſich ganz, und auch indem er ſich zu erkennen ſucht, weiß er ſich ſchon ganz. Dies ſein Wiſſen von ihm ſelber entſpricht mehr den An- forderungen an wiſſenſchaftliche Wahrheit als das von der äußeren Natur. — Die in dieſen Sätzen enthaltene, tiefe erkenntnißtheoretiſche Wahrheit wird nun von Auguſtinus zu folgendem Schluß benutzt. Wir werden unſer ſelber inne, indem wir Denken, Erinnern, Wollen als unſere Akte auffaſſen, und in dem Gewahrwerden derſelben haben wir ein wahres Wiſſen über uns. Nun heißt, ein wahres Wiſſen von etwas haben, deſſen Subſtanz erkennen. Sonach er- kennen wir die Subſtanz der Seele 1). — Liegt in der Einführung des Begriffs der Subſtanz eine unhaltbare und in dieſem Zu- ſammenhang unnöthige Benutzung der Metaphyſik, ſo wird andrer- ſeits von ihm der Nachweis, daß dieſes Seelenleben nicht als eine Leiſtung der Materie betrachtet werden könne, nach richtiger Me- thode geführt. Aus der Analyſis des Seelenlebens wird abge- leitet, daß die Eigenſchaften deſſelben auf körperliche Elemente nicht zurückgeführt werden dürfen 2). Nur daß auch hier ſofort der dogmatiſche Begriff der Seelenſubſtanz ſich einſtellt. — Aus der Verkettung dieſer Schlüſſe ergiebt ſich endlich: die Seele kann nicht auf die materielle Naturordnung zurückgeführt werden, je- doch muß ſie als veränderlich einen unveränderlichen Grund haben, ſonach iſt Gott die Urſache der Seele wie der veränderlichen Welt überhaupt, die Seele iſt von Gott geſchaffen; denn was nicht ſeine Unveränderlichkeit theilt, kann nicht ein Theil der Sub- ſtanz Gottes ſein 3). 1) Die wichtigſten Stellen finden ſich im zehnten Buche der Schrift de trinitate. Vgl. de Genesi ad litt. VII c. 21. 2) De Gen. ad litt. VII c. 20. 21; de vera religione c. 29; de libero arbitrio II c. 3 ff. 3) Sermo 241 c. 2, epist. 166 c. 2, de vera relig. c. 30. 31.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 332. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/355>, abgerufen am 17.05.2024.