und von der Tiefe der Selbstbesinnung in die transscendente Welt emporreicht, an demjenigen Schriftsteller dar, welcher die äußersten Grenzen des in diesem Zeitraum Errungenen bezeichnet.
Wir beginnen sonach mit der folgenden Frage. Wie weit ist in dieser Zeit der Väter das Recht der neuen Selbstgewißheit des Glaubens und des Herzens gegenüber der antiken Philosophie, insbe- sondere gegenüber dem Skepticismus als ihrem letzten Worte, wissen- schaftlich geltend gemacht worden? Der tiefste Denker dieses neuen Zeitraums der Metaphysik, zugleich der mächtigste Mensch unter den Schriftstellern der ganzen älteren christlichen Welt ist Au- gustinus gewesen, und es schien, als ob er zu einer der großen Realität des Christenthums entsprechenden Grundlegung der christ- lichen Erkenntniß hindurchdringen werde. Was des Origenes milder Geist, von anderen wissenschaftlich geringeren griechischen Vätern zu schweigen, versucht hatte, erreichte die stürmische Seele des Augustinus für lange Jahrhunderte: er verdrängte und über- bot die antike Weltanschauung durch ein umfassendes Lehrge- bäude der christlichen Wissenschaft. Und wie weit gelangte nun Augustinus?
Diesem in das religiöse Erleben vertieften Menschen sind die Probleme des Kosmos ganz gleichgiltig geworden. "Was willst Du also erkennen?" So redet die Vernunft im Selbst- gespräch die Seele an. "Gott und die Seele will ich erkennen." "Und nichts weiter?" "Gar nichts weiter." Selbstbesinnung ist daher der Mittelpunkt der ersten Schriften des Augustinus, welche wie in einem starken Strome von innen, darum innerlich zusammenhängend, seit dem Jahre 386 hervorbrachen.
Die Selbstbesinnung findet sich aber des inneren Lebens allein vollkommen sicher. Wol ist ihr auch die Welt gewiß, aber als das, was dem Selbst erscheint, als sein Phänomen. Aller Zweifel der Akademie richtet sich also nach Augustinus nur da- gegen, daß das, was dem Selbst erscheint, so ist, wie es erscheint; jedoch kann keinem Zweifel unterworfen werden, daß ihm etwas erscheine. Ich nenne nun, fährt er fort, dies Ganze, welches
Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
und von der Tiefe der Selbſtbeſinnung in die transſcendente Welt emporreicht, an demjenigen Schriftſteller dar, welcher die äußerſten Grenzen des in dieſem Zeitraum Errungenen bezeichnet.
Wir beginnen ſonach mit der folgenden Frage. Wie weit iſt in dieſer Zeit der Väter das Recht der neuen Selbſtgewißheit des Glaubens und des Herzens gegenüber der antiken Philoſophie, insbe- ſondere gegenüber dem Skepticismus als ihrem letzten Worte, wiſſen- ſchaftlich geltend gemacht worden? Der tiefſte Denker dieſes neuen Zeitraums der Metaphyſik, zugleich der mächtigſte Menſch unter den Schriftſtellern der ganzen älteren chriſtlichen Welt iſt Au- guſtinus geweſen, und es ſchien, als ob er zu einer der großen Realität des Chriſtenthums entſprechenden Grundlegung der chriſt- lichen Erkenntniß hindurchdringen werde. Was des Origenes milder Geiſt, von anderen wiſſenſchaftlich geringeren griechiſchen Vätern zu ſchweigen, verſucht hatte, erreichte die ſtürmiſche Seele des Auguſtinus für lange Jahrhunderte: er verdrängte und über- bot die antike Weltanſchauung durch ein umfaſſendes Lehrge- bäude der chriſtlichen Wiſſenſchaft. Und wie weit gelangte nun Auguſtinus?
Dieſem in das religiöſe Erleben vertieften Menſchen ſind die Probleme des Kosmos ganz gleichgiltig geworden. „Was willſt Du alſo erkennen?“ So redet die Vernunft im Selbſt- geſpräch die Seele an. „Gott und die Seele will ich erkennen.“ „Und nichts weiter?“ „Gar nichts weiter.“ Selbſtbeſinnung iſt daher der Mittelpunkt der erſten Schriften des Auguſtinus, welche wie in einem ſtarken Strome von innen, darum innerlich zuſammenhängend, ſeit dem Jahre 386 hervorbrachen.
Die Selbſtbeſinnung findet ſich aber des inneren Lebens allein vollkommen ſicher. Wol iſt ihr auch die Welt gewiß, aber als das, was dem Selbſt erſcheint, als ſein Phänomen. Aller Zweifel der Akademie richtet ſich alſo nach Auguſtinus nur da- gegen, daß das, was dem Selbſt erſcheint, ſo iſt, wie es erſcheint; jedoch kann keinem Zweifel unterworfen werden, daß ihm etwas erſcheine. Ich nenne nun, fährt er fort, dies Ganze, welches
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Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
und von der Tiefe der Selbſtbeſinnung in die transſcendente Welt
emporreicht, an demjenigen Schriftſteller dar, welcher die äußerſten
Grenzen des in dieſem Zeitraum Errungenen bezeichnet.
Wir beginnen ſonach mit der folgenden Frage. Wie weit iſt
in dieſer Zeit der Väter das Recht der neuen Selbſtgewißheit des
Glaubens und des Herzens gegenüber der antiken Philoſophie, insbe-
ſondere gegenüber dem Skepticismus als ihrem letzten Worte, wiſſen-
ſchaftlich geltend gemacht worden? Der tiefſte Denker dieſes neuen
Zeitraums der Metaphyſik, zugleich der mächtigſte Menſch unter
den Schriftſtellern der ganzen älteren chriſtlichen Welt iſt Au-
guſtinus geweſen, und es ſchien, als ob er zu einer der großen
Realität des Chriſtenthums entſprechenden Grundlegung der chriſt-
lichen Erkenntniß hindurchdringen werde. Was des Origenes
milder Geiſt, von anderen wiſſenſchaftlich geringeren griechiſchen
Vätern zu ſchweigen, verſucht hatte, erreichte die ſtürmiſche Seele
des Auguſtinus für lange Jahrhunderte: er verdrängte und über-
bot die antike Weltanſchauung durch ein umfaſſendes Lehrge-
bäude der chriſtlichen Wiſſenſchaft. Und wie weit gelangte nun
Auguſtinus?
Dieſem in das religiöſe Erleben vertieften Menſchen ſind
die Probleme des Kosmos ganz gleichgiltig geworden.
„Was willſt Du alſo erkennen?“ So redet die Vernunft im Selbſt-
geſpräch die Seele an. „Gott und die Seele will ich erkennen.“
„Und nichts weiter?“ „Gar nichts weiter.“ Selbſtbeſinnung
iſt daher der Mittelpunkt der erſten Schriften des Auguſtinus,
welche wie in einem ſtarken Strome von innen, darum innerlich
zuſammenhängend, ſeit dem Jahre 386 hervorbrachen.
Die Selbſtbeſinnung findet ſich aber des inneren Lebens
allein vollkommen ſicher. Wol iſt ihr auch die Welt gewiß, aber
als das, was dem Selbſt erſcheint, als ſein Phänomen. Aller
Zweifel der Akademie richtet ſich alſo nach Auguſtinus nur da-
gegen, daß das, was dem Selbſt erſcheint, ſo iſt, wie es erſcheint;
jedoch kann keinem Zweifel unterworfen werden, daß ihm etwas
erſcheine. Ich nenne nun, fährt er fort, dies Ganze, welches
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/349>, abgerufen am 25.11.2024.
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