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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.

Einerseits trat eine Abwendung von der bloßen Gedanken-
mäßigkeit des Kosmos ein. Nicht in dieser in Allgemein-
begriffen darstellbaren ebenmäßigen Schönheit lag dem Christen
der Zweck des Weltganzen; nicht in ihrer Betrachtung bestand ihm
das, worin die menschliche Vernunft ihre Verwandtschaft mit der
göttlichen genießt: die Stellung des Menschen zur Natur hat sich
ihm umgeändert, und die Vorstellung der Schöpfung aus Nichts,
der Gegensatz von Geist und Fleisch lassen den Umfang dieser
Veränderung ermessen. Andrerseits bewirkte der veränderte Stand
des Seelenlebens eine ganz neue Stellung des metaphy-
sischen Bewußtseins
zu der geistigen Welt. In dem
erhabensten Gedanken, der über den Zusammenhang dieser geistigen
Welt je gedacht worden ist, verknüpften sich die einfach großen
Vorstellungen von dem Reiche Gottes, der Brüderlichkeit der
Menschen und ihrer Independenz in ihrem höchsten Verhältnisse
von allen natürlichen Bedingungen ihres Daseins; derselbe begann
jetzt seinen Siegeslauf. Ihn verwirklichte die gesellschaftliche Ord-
nung der Christengemeinde, die auf Aufopferung gegründet war
und in welcher sich der einzelne Christ wie in einem schützenden
Boote auf der wilden See des Lebens wol behütet fühlte. Zwar
war das Bewußtsein der inneren Freiheit des Menschen, die Auf-
hebung der Ungleichheiten und nationalen Schranken zwischen diesen
Freien auch in dem weiteren Verlauf der antiken Philosophie,
insbesondere bei den Stoikern, vorhanden, aber diese innere Freiheit
war nur für den Weisen erreichbar, hier dagegen war sie jedem
durch den Glauben zugänglich. Dem Allen entsprachen die Vor-
stellungen von einem genealogischen Zusammenhang in der Ge-
schichte des Menschengeschlechts und einem metaphysischen Bande,
das die menschliche Gesellschaft zusammenhält.

Das Alles lag in dem Erlebniß des Christenthums. Die
ersten wissenschaftlichen Darstellungen desselben ent-
standen in einer Epoche des Ringens zwischen den alten Religionen
und den christlichen Gemeinden, in den ersten Jahrhunderten nach
Christus. Offenbarung, Religion und der Kampf der Religionen:
das war in diesen Jahrhunderten die große Angelegenheit der

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.

Einerſeits trat eine Abwendung von der bloßen Gedanken-
mäßigkeit des Kosmos ein. Nicht in dieſer in Allgemein-
begriffen darſtellbaren ebenmäßigen Schönheit lag dem Chriſten
der Zweck des Weltganzen; nicht in ihrer Betrachtung beſtand ihm
das, worin die menſchliche Vernunft ihre Verwandtſchaft mit der
göttlichen genießt: die Stellung des Menſchen zur Natur hat ſich
ihm umgeändert, und die Vorſtellung der Schöpfung aus Nichts,
der Gegenſatz von Geiſt und Fleiſch laſſen den Umfang dieſer
Veränderung ermeſſen. Andrerſeits bewirkte der veränderte Stand
des Seelenlebens eine ganz neue Stellung des metaphy-
ſiſchen Bewußtſeins
zu der geiſtigen Welt. In dem
erhabenſten Gedanken, der über den Zuſammenhang dieſer geiſtigen
Welt je gedacht worden iſt, verknüpften ſich die einfach großen
Vorſtellungen von dem Reiche Gottes, der Brüderlichkeit der
Menſchen und ihrer Independenz in ihrem höchſten Verhältniſſe
von allen natürlichen Bedingungen ihres Daſeins; derſelbe begann
jetzt ſeinen Siegeslauf. Ihn verwirklichte die geſellſchaftliche Ord-
nung der Chriſtengemeinde, die auf Aufopferung gegründet war
und in welcher ſich der einzelne Chriſt wie in einem ſchützenden
Boote auf der wilden See des Lebens wol behütet fühlte. Zwar
war das Bewußtſein der inneren Freiheit des Menſchen, die Auf-
hebung der Ungleichheiten und nationalen Schranken zwiſchen dieſen
Freien auch in dem weiteren Verlauf der antiken Philoſophie,
insbeſondere bei den Stoikern, vorhanden, aber dieſe innere Freiheit
war nur für den Weiſen erreichbar, hier dagegen war ſie jedem
durch den Glauben zugänglich. Dem Allen entſprachen die Vor-
ſtellungen von einem genealogiſchen Zuſammenhang in der Ge-
ſchichte des Menſchengeſchlechts und einem metaphyſiſchen Bande,
das die menſchliche Geſellſchaft zuſammenhält.

Das Alles lag in dem Erlebniß des Chriſtenthums. Die
erſten wiſſenſchaftlichen Darſtellungen deſſelben ent-
ſtanden in einer Epoche des Ringens zwiſchen den alten Religionen
und den chriſtlichen Gemeinden, in den erſten Jahrhunderten nach
Chriſtus. Offenbarung, Religion und der Kampf der Religionen:
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[318/0341] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. Einerſeits trat eine Abwendung von der bloßen Gedanken- mäßigkeit des Kosmos ein. Nicht in dieſer in Allgemein- begriffen darſtellbaren ebenmäßigen Schönheit lag dem Chriſten der Zweck des Weltganzen; nicht in ihrer Betrachtung beſtand ihm das, worin die menſchliche Vernunft ihre Verwandtſchaft mit der göttlichen genießt: die Stellung des Menſchen zur Natur hat ſich ihm umgeändert, und die Vorſtellung der Schöpfung aus Nichts, der Gegenſatz von Geiſt und Fleiſch laſſen den Umfang dieſer Veränderung ermeſſen. Andrerſeits bewirkte der veränderte Stand des Seelenlebens eine ganz neue Stellung des metaphy- ſiſchen Bewußtſeins zu der geiſtigen Welt. In dem erhabenſten Gedanken, der über den Zuſammenhang dieſer geiſtigen Welt je gedacht worden iſt, verknüpften ſich die einfach großen Vorſtellungen von dem Reiche Gottes, der Brüderlichkeit der Menſchen und ihrer Independenz in ihrem höchſten Verhältniſſe von allen natürlichen Bedingungen ihres Daſeins; derſelbe begann jetzt ſeinen Siegeslauf. Ihn verwirklichte die geſellſchaftliche Ord- nung der Chriſtengemeinde, die auf Aufopferung gegründet war und in welcher ſich der einzelne Chriſt wie in einem ſchützenden Boote auf der wilden See des Lebens wol behütet fühlte. Zwar war das Bewußtſein der inneren Freiheit des Menſchen, die Auf- hebung der Ungleichheiten und nationalen Schranken zwiſchen dieſen Freien auch in dem weiteren Verlauf der antiken Philoſophie, insbeſondere bei den Stoikern, vorhanden, aber dieſe innere Freiheit war nur für den Weiſen erreichbar, hier dagegen war ſie jedem durch den Glauben zugänglich. Dem Allen entſprachen die Vor- ſtellungen von einem genealogiſchen Zuſammenhang in der Ge- ſchichte des Menſchengeſchlechts und einem metaphyſiſchen Bande, das die menſchliche Geſellſchaft zuſammenhält. Das Alles lag in dem Erlebniß des Chriſtenthums. Die erſten wiſſenſchaftlichen Darſtellungen deſſelben ent- ſtanden in einer Epoche des Ringens zwiſchen den alten Religionen und den chriſtlichen Gemeinden, in den erſten Jahrhunderten nach Chriſtus. Offenbarung, Religion und der Kampf der Religionen: das war in dieſen Jahrhunderten die große Angelegenheit der

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/341>, abgerufen am 17.05.2024.