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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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D. Selbstgew. d. inneren Erfahr. durchbr. d. Schrank. d. antik. Wissensch.
bewußtsein gegeben ist; dieses Innewerden ist von einer Sicher-
heit erfüllt, welche jeden Zweifel ausschließt; die Erfahrungen
des Willens und des Herzens verschlingen mit ihrem ungeheuren
Interesse jeden anderen Gegenstand des Wissens, sie erweisen sich
in ihrer Selbstgewißheit allmächtig gegenüber jedem Ergebniß
der Betrachtung des Kosmos sowie gegenüber jedem Zweifel,
der aus Erwägungen über das Verhältniß der Intelligenz zu
den von ihr abzubildenden Gegenständen stammte. Hätte gleich
damals dieser Glaube der Gemeinden eine ihm ganz entsprechende
Wissenschaft entwickelt: so hätte diese in einer auf die innere
Erfahrung zurückgehenden Grundlegung bestehen müssen.

Aber dieser innere Zusammenhang, welcher in Bezug auf
die Begründung der Wissenschaft zwischen dem Christenthum und
einer von der inneren Erfahrung ausgehenden Erkenntniß
besteht, hat im Mittelalter eine entsprechende Grundlegung der
Wissenschaft nicht hervorgebracht. Dies war in der Uebermacht
der antiken Kultur begründet, innerhalb deren das Christenthum
nun langsam sich geltend zu machen begann. Alsdann wirkte
von innen in derselben Richtung das Verhältniß der religiösen
Erfahrung zu dem Vorstellen. Findet doch auch das innigste
religiöse Seelenleben nur in einem Vorstellungszusammenhang
seinen Ausdruck. Schleiermacher sagt einmal: "die Entwicklung
des Christenthums im Abendlande hat eine große Masse des ob-
jektiven Bewußtseins zum Rückhalt; genauer genommen können
wir aber diese Masse des objektiven Bewußtseins nur als ein
Verständigungsmittel ansehen 1)."

Die Selbstgewißheit der inneren Erfahrungen des Willens
und des Herzens, alsdann der Inhalt dieser Erfahrungen, sonach
die Veränderung des tiefsten Seelenlebens: dies Alles enthielt nun
aber nicht nur die Anforderung einer auf die innere Erfahrung
zurückgehenden Grundlegung in sich, sondern es wirkte auch in
anderer Beziehung auf die fernere intellektuelle Entwicklung, und
zwar sowol in Bezug auf die Naturerkenntniß als auf die Geistes-
wissenschaften
.


1) Schleiermacher, Psychologie S. 195.

D. Selbſtgew. d. inneren Erfahr. durchbr. d. Schrank. d. antik. Wiſſenſch.
bewußtſein gegeben iſt; dieſes Innewerden iſt von einer Sicher-
heit erfüllt, welche jeden Zweifel ausſchließt; die Erfahrungen
des Willens und des Herzens verſchlingen mit ihrem ungeheuren
Intereſſe jeden anderen Gegenſtand des Wiſſens, ſie erweiſen ſich
in ihrer Selbſtgewißheit allmächtig gegenüber jedem Ergebniß
der Betrachtung des Kosmos ſowie gegenüber jedem Zweifel,
der aus Erwägungen über das Verhältniß der Intelligenz zu
den von ihr abzubildenden Gegenſtänden ſtammte. Hätte gleich
damals dieſer Glaube der Gemeinden eine ihm ganz entſprechende
Wiſſenſchaft entwickelt: ſo hätte dieſe in einer auf die innere
Erfahrung zurückgehenden Grundlegung beſtehen müſſen.

Aber dieſer innere Zuſammenhang, welcher in Bezug auf
die Begründung der Wiſſenſchaft zwiſchen dem Chriſtenthum und
einer von der inneren Erfahrung ausgehenden Erkenntniß
beſteht, hat im Mittelalter eine entſprechende Grundlegung der
Wiſſenſchaft nicht hervorgebracht. Dies war in der Uebermacht
der antiken Kultur begründet, innerhalb deren das Chriſtenthum
nun langſam ſich geltend zu machen begann. Alsdann wirkte
von innen in derſelben Richtung das Verhältniß der religiöſen
Erfahrung zu dem Vorſtellen. Findet doch auch das innigſte
religiöſe Seelenleben nur in einem Vorſtellungszuſammenhang
ſeinen Ausdruck. Schleiermacher ſagt einmal: „die Entwicklung
des Chriſtenthums im Abendlande hat eine große Maſſe des ob-
jektiven Bewußtſeins zum Rückhalt; genauer genommen können
wir aber dieſe Maſſe des objektiven Bewußtſeins nur als ein
Verſtändigungsmittel anſehen 1).“

Die Selbſtgewißheit der inneren Erfahrungen des Willens
und des Herzens, alsdann der Inhalt dieſer Erfahrungen, ſonach
die Veränderung des tiefſten Seelenlebens: dies Alles enthielt nun
aber nicht nur die Anforderung einer auf die innere Erfahrung
zurückgehenden Grundlegung in ſich, ſondern es wirkte auch in
anderer Beziehung auf die fernere intellektuelle Entwicklung, und
zwar ſowol in Bezug auf die Naturerkenntniß als auf die Geiſtes-
wiſſenſchaften
.


1) Schleiermacher, Pſychologie S. 195.
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[317/0340] D. Selbſtgew. d. inneren Erfahr. durchbr. d. Schrank. d. antik. Wiſſenſch. bewußtſein gegeben iſt; dieſes Innewerden iſt von einer Sicher- heit erfüllt, welche jeden Zweifel ausſchließt; die Erfahrungen des Willens und des Herzens verſchlingen mit ihrem ungeheuren Intereſſe jeden anderen Gegenſtand des Wiſſens, ſie erweiſen ſich in ihrer Selbſtgewißheit allmächtig gegenüber jedem Ergebniß der Betrachtung des Kosmos ſowie gegenüber jedem Zweifel, der aus Erwägungen über das Verhältniß der Intelligenz zu den von ihr abzubildenden Gegenſtänden ſtammte. Hätte gleich damals dieſer Glaube der Gemeinden eine ihm ganz entſprechende Wiſſenſchaft entwickelt: ſo hätte dieſe in einer auf die innere Erfahrung zurückgehenden Grundlegung beſtehen müſſen. Aber dieſer innere Zuſammenhang, welcher in Bezug auf die Begründung der Wiſſenſchaft zwiſchen dem Chriſtenthum und einer von der inneren Erfahrung ausgehenden Erkenntniß beſteht, hat im Mittelalter eine entſprechende Grundlegung der Wiſſenſchaft nicht hervorgebracht. Dies war in der Uebermacht der antiken Kultur begründet, innerhalb deren das Chriſtenthum nun langſam ſich geltend zu machen begann. Alsdann wirkte von innen in derſelben Richtung das Verhältniß der religiöſen Erfahrung zu dem Vorſtellen. Findet doch auch das innigſte religiöſe Seelenleben nur in einem Vorſtellungszuſammenhang ſeinen Ausdruck. Schleiermacher ſagt einmal: „die Entwicklung des Chriſtenthums im Abendlande hat eine große Maſſe des ob- jektiven Bewußtſeins zum Rückhalt; genauer genommen können wir aber dieſe Maſſe des objektiven Bewußtſeins nur als ein Verſtändigungsmittel anſehen 1).“ Die Selbſtgewißheit der inneren Erfahrungen des Willens und des Herzens, alsdann der Inhalt dieſer Erfahrungen, ſonach die Veränderung des tiefſten Seelenlebens: dies Alles enthielt nun aber nicht nur die Anforderung einer auf die innere Erfahrung zurückgehenden Grundlegung in ſich, ſondern es wirkte auch in anderer Beziehung auf die fernere intellektuelle Entwicklung, und zwar ſowol in Bezug auf die Naturerkenntniß als auf die Geiſtes- wiſſenſchaften. 1) Schleiermacher, Pſychologie S. 195.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/340>, abgerufen am 22.11.2024.