Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
Mittel, durch die Rom erreicht, was z. B. Sparta trotz seiner
ebenfalls gemischten Verfassung nicht erreichen konnte, sowie ein
auf Verehrung der Götter gegründeter Rechtssinn. Die Welt-
beschreibung des Plinius kann wenigstens in Rücksicht ihres
Planes, bei großer Oberflächlichkeit der Ausführung, als der Ab-
schluß der großen Arbeit der alten Völker Europas gelten, den
Kosmos von den Bewegungen der Massen im Weltraum bis zu
der Verbreitung und dem geistigen Leben des Menschengeschlechts
auf der Erde zu umfassen. Und zwar verfolgt er besonders gern
die Wirkung des Naturzusammenhangs auf die menschliche Kultur.
In der Morgendämmerung griechischen Geisteslebens war der
Begriff des Kosmos aufgegangen; nun war in den großen Arbeiten
eines Eratosthenes, Hipparch und Ptolemäus, von deren um-
fassendem Geiste wir noch einen Hauch in dem Plan des Plinius
empfinden, den Jugendträumen dieser Völker im Alter die Erfüllung
geworden.

Jedoch die Kultur der alten Welt zerbrach, ohne daß die
Einzelwissenschaften zu einem Ganzen sich verknüpft hätten, welches
wirklich die Stelle der Metaphysik hätte ausfüllen können. Es gab
wol Skepticismus, aber es gab keine Erkenntnißtheorie, welche
doch erst den Zusammenhang der Einzelwissenschaften neu zu
organisiren vermag, wann die große Illusion der metaphysischen
Grundlegung der Wissenschaften sich aufgelöst hat. Was der Geist
auf seinem Eroberungszug durch die ganze Welt nicht zu erringen
vermocht hatte, sichere Begründung seiner Gedanken wie seines
Handelns, das findet er nun, zurückgekehrt, in sich selber.



Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Mittel, durch die Rom erreicht, was z. B. Sparta trotz ſeiner
ebenfalls gemiſchten Verfaſſung nicht erreichen konnte, ſowie ein
auf Verehrung der Götter gegründeter Rechtsſinn. Die Welt-
beſchreibung des Plinius kann wenigſtens in Rückſicht ihres
Planes, bei großer Oberflächlichkeit der Ausführung, als der Ab-
ſchluß der großen Arbeit der alten Völker Europas gelten, den
Kosmos von den Bewegungen der Maſſen im Weltraum bis zu
der Verbreitung und dem geiſtigen Leben des Menſchengeſchlechts
auf der Erde zu umfaſſen. Und zwar verfolgt er beſonders gern
die Wirkung des Naturzuſammenhangs auf die menſchliche Kultur.
In der Morgendämmerung griechiſchen Geiſteslebens war der
Begriff des Kosmos aufgegangen; nun war in den großen Arbeiten
eines Eratoſthenes, Hipparch und Ptolemäus, von deren um-
faſſendem Geiſte wir noch einen Hauch in dem Plan des Plinius
empfinden, den Jugendträumen dieſer Völker im Alter die Erfüllung
geworden.

Jedoch die Kultur der alten Welt zerbrach, ohne daß die
Einzelwiſſenſchaften zu einem Ganzen ſich verknüpft hätten, welches
wirklich die Stelle der Metaphyſik hätte ausfüllen können. Es gab
wol Skepticismus, aber es gab keine Erkenntnißtheorie, welche
doch erſt den Zuſammenhang der Einzelwiſſenſchaften neu zu
organiſiren vermag, wann die große Illuſion der metaphyſiſchen
Grundlegung der Wiſſenſchaften ſich aufgelöſt hat. Was der Geiſt
auf ſeinem Eroberungszug durch die ganze Welt nicht zu erringen
vermocht hatte, ſichere Begründung ſeiner Gedanken wie ſeines
Handelns, das findet er nun, zurückgekehrt, in ſich ſelber.



<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0337" n="314"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Zweiter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
Mittel, durch die Rom erreicht, was z. B. Sparta trotz &#x017F;einer<lb/>
ebenfalls gemi&#x017F;chten Verfa&#x017F;&#x017F;ung nicht erreichen konnte, &#x017F;owie ein<lb/>
auf Verehrung der Götter gegründeter Rechts&#x017F;inn. Die Welt-<lb/>
be&#x017F;chreibung des <hi rendition="#g">Plinius</hi> kann wenig&#x017F;tens in Rück&#x017F;icht ihres<lb/>
Planes, bei großer Oberflächlichkeit der Ausführung, als der Ab-<lb/>
&#x017F;chluß der großen Arbeit der alten Völker Europas gelten, den<lb/>
Kosmos von den Bewegungen der Ma&#x017F;&#x017F;en im Weltraum bis zu<lb/>
der Verbreitung und dem gei&#x017F;tigen Leben des Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechts<lb/>
auf der Erde zu umfa&#x017F;&#x017F;en. Und zwar verfolgt er be&#x017F;onders gern<lb/>
die Wirkung des Naturzu&#x017F;ammenhangs auf die men&#x017F;chliche Kultur.<lb/>
In der Morgendämmerung griechi&#x017F;chen Gei&#x017F;teslebens war der<lb/>
Begriff des Kosmos aufgegangen; nun war in den großen Arbeiten<lb/>
eines Erato&#x017F;thenes, Hipparch und Ptolemäus, von deren um-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;endem Gei&#x017F;te wir noch einen Hauch in dem Plan des Plinius<lb/>
empfinden, den Jugendträumen die&#x017F;er Völker im Alter die Erfüllung<lb/>
geworden.</p><lb/>
              <p>Jedoch die Kultur der alten Welt zerbrach, ohne daß die<lb/>
Einzelwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften zu einem Ganzen &#x017F;ich verknüpft hätten, welches<lb/>
wirklich die Stelle der Metaphy&#x017F;ik hätte ausfüllen können. Es gab<lb/>
wol Skepticismus, aber es gab keine Erkenntnißtheorie, welche<lb/>
doch er&#x017F;t den Zu&#x017F;ammenhang der Einzelwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften neu zu<lb/>
organi&#x017F;iren vermag, wann die große Illu&#x017F;ion der metaphy&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Grundlegung der Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften &#x017F;ich aufgelö&#x017F;t hat. Was der Gei&#x017F;t<lb/>
auf &#x017F;einem Eroberungszug durch die ganze Welt nicht zu erringen<lb/>
vermocht hatte, &#x017F;ichere Begründung &#x017F;einer Gedanken wie &#x017F;eines<lb/>
Handelns, das findet er nun, zurückgekehrt, in &#x017F;ich &#x017F;elber.</p>
            </div>
          </div>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[314/0337] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Mittel, durch die Rom erreicht, was z. B. Sparta trotz ſeiner ebenfalls gemiſchten Verfaſſung nicht erreichen konnte, ſowie ein auf Verehrung der Götter gegründeter Rechtsſinn. Die Welt- beſchreibung des Plinius kann wenigſtens in Rückſicht ihres Planes, bei großer Oberflächlichkeit der Ausführung, als der Ab- ſchluß der großen Arbeit der alten Völker Europas gelten, den Kosmos von den Bewegungen der Maſſen im Weltraum bis zu der Verbreitung und dem geiſtigen Leben des Menſchengeſchlechts auf der Erde zu umfaſſen. Und zwar verfolgt er beſonders gern die Wirkung des Naturzuſammenhangs auf die menſchliche Kultur. In der Morgendämmerung griechiſchen Geiſteslebens war der Begriff des Kosmos aufgegangen; nun war in den großen Arbeiten eines Eratoſthenes, Hipparch und Ptolemäus, von deren um- faſſendem Geiſte wir noch einen Hauch in dem Plan des Plinius empfinden, den Jugendträumen dieſer Völker im Alter die Erfüllung geworden. Jedoch die Kultur der alten Welt zerbrach, ohne daß die Einzelwiſſenſchaften zu einem Ganzen ſich verknüpft hätten, welches wirklich die Stelle der Metaphyſik hätte ausfüllen können. Es gab wol Skepticismus, aber es gab keine Erkenntnißtheorie, welche doch erſt den Zuſammenhang der Einzelwiſſenſchaften neu zu organiſiren vermag, wann die große Illuſion der metaphyſiſchen Grundlegung der Wiſſenſchaften ſich aufgelöſt hat. Was der Geiſt auf ſeinem Eroberungszug durch die ganze Welt nicht zu erringen vermocht hatte, ſichere Begründung ſeiner Gedanken wie ſeines Handelns, das findet er nun, zurückgekehrt, in ſich ſelber.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/337
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/337>, abgerufen am 22.11.2024.