Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.
Zweites Buch. Zweiter Abschnitt. schulen traten nun die von Fürsten und Staaten gegründeten wissen-schaftlichen Anstalten. Alexandrien wurde durch die Schöpfungen einer großherzigen und weisen Politik Mittelpunkt der neuen geistigen Bewegung; die intellektuelle Herrschaft ging damit von Athen dorthin über. Denn es bedurfte von jetzt ab der Observatorien mit einem immer reicheren Apparat von Instrumenten, der zoologischen und botanischen Gärten, der Anatomien und unge- heuren Bibliotheken, um an der Spitze dieser positiven Wissen- schaften zu bleiben. Was nun geschah, ist nicht geringer, als was die metaphysische Bewegung bisher geschaffen hatte. Wenn das Eintreten der neueren europäischen Völker in das Stadium der positiven Wissenschaften vom fünfzehnten Jahrhundert ab Renaissance ist, so werden in dieser die positiven Forschungen da aufgenommen, wo die Einzelwissenschaften der Alten den Faden ihrer Arbeit hatten fallen lassen müssen, und niemand glaube, daß die Episode des italienischen Platonismus oder die Erneuerung des reinen Aristoteles in Italien und Deutschland den Kern der euro- päischen Renaissance, sofern sie intellektuelle Entwicklung ist, ge- bildet habe. Jedoch bildete der Erwerb des metaphysischen Sta- Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. ſchulen traten nun die von Fürſten und Staaten gegründeten wiſſen-ſchaftlichen Anſtalten. Alexandrien wurde durch die Schöpfungen einer großherzigen und weiſen Politik Mittelpunkt der neuen geiſtigen Bewegung; die intellektuelle Herrſchaft ging damit von Athen dorthin über. Denn es bedurfte von jetzt ab der Obſervatorien mit einem immer reicheren Apparat von Inſtrumenten, der zoologiſchen und botaniſchen Gärten, der Anatomien und unge- heuren Bibliotheken, um an der Spitze dieſer poſitiven Wiſſen- ſchaften zu bleiben. Was nun geſchah, iſt nicht geringer, als was die metaphyſiſche Bewegung bisher geſchaffen hatte. Wenn das Eintreten der neueren europäiſchen Völker in das Stadium der poſitiven Wiſſenſchaften vom fünfzehnten Jahrhundert ab Renaiſſance iſt, ſo werden in dieſer die poſitiven Forſchungen da aufgenommen, wo die Einzelwiſſenſchaften der Alten den Faden ihrer Arbeit hatten fallen laſſen müſſen, und niemand glaube, daß die Epiſode des italieniſchen Platonismus oder die Erneuerung des reinen Ariſtoteles in Italien und Deutſchland den Kern der euro- päiſchen Renaiſſance, ſofern ſie intellektuelle Entwicklung iſt, ge- bildet habe. Jedoch bildete der Erwerb des metaphyſiſchen Sta- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0333" n="310"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.</fw><lb/> ſchulen traten nun die von Fürſten und Staaten gegründeten wiſſen-<lb/> ſchaftlichen Anſtalten. Alexandrien wurde durch die Schöpfungen<lb/> einer großherzigen und weiſen Politik Mittelpunkt der neuen geiſtigen<lb/> Bewegung; die intellektuelle Herrſchaft ging damit von Athen<lb/> dorthin über. Denn es bedurfte von jetzt ab der Obſervatorien<lb/> mit einem immer reicheren Apparat von Inſtrumenten, der<lb/> zoologiſchen und botaniſchen Gärten, der Anatomien und unge-<lb/> heuren Bibliotheken, um an der Spitze dieſer poſitiven Wiſſen-<lb/> ſchaften zu bleiben. Was nun geſchah, iſt nicht geringer, als<lb/> was die metaphyſiſche Bewegung bisher geſchaffen hatte. Wenn<lb/> das Eintreten der neueren europäiſchen Völker in das Stadium<lb/> der poſitiven Wiſſenſchaften vom fünfzehnten Jahrhundert ab<lb/> Renaiſſance iſt, ſo werden in dieſer die poſitiven Forſchungen da<lb/> aufgenommen, wo die Einzelwiſſenſchaften der Alten den Faden<lb/> ihrer Arbeit hatten fallen laſſen müſſen, und niemand glaube, daß<lb/> die Epiſode des italieniſchen Platonismus oder die Erneuerung des<lb/> reinen Ariſtoteles in Italien und Deutſchland den Kern der euro-<lb/> päiſchen Renaiſſance, ſofern ſie intellektuelle Entwicklung iſt, ge-<lb/> bildet habe.</p><lb/> <p>Jedoch bildete der <hi rendition="#g">Erwerb des metaphyſiſchen Sta-<lb/> diums</hi> der alten Völker die Grundlage für die Leiſtungen dieſer<lb/> folgenden Zeit, in welcher das Schwergewicht des intellektuellen<lb/> Fortſchritts in den Einzelwiſſenſchaften lag. — Die erſte Bedingung<lb/> dieſes Fortſchritts ſind die erworbenen <hi rendition="#g">Begriffe</hi>. So hatte die<lb/> griechiſche Metaphyſik die Begriffe von Subſtanz und Atom hervor-<lb/> gebracht, die von Urſache und Bedingung oder Grund unterſchieden<lb/> und den Begriff von Form auf den einzelnen Gebieten durchgeführt.<lb/> Sie hatte Grundverhältniſſe, wie die Beziehung zwiſchen Struktur,<lb/> Funktion und Zweck in einem Organismus oder zwiſchen Leiſtung<lb/> und Antheil an Herrſchaft und Gütern in einem politiſchen Ganzen<lb/> aufgezeigt. — Die zweite Bedingung lag in der Entwicklung von<lb/><hi rendition="#g">grundlegenden</hi>, wenn auch an Evidenz ungleichen <hi rendition="#g">Sätzen</hi>.<lb/> Solche waren: es giebt keinen Uebergang aus dem Nichts zum Sein<lb/> oder aus dieſem zurück in das Nichts; es kann nicht daſſelbe in<lb/> derſelben Beziehung behauptet und verneint werden; räumliche Be-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [310/0333]
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
ſchulen traten nun die von Fürſten und Staaten gegründeten wiſſen-
ſchaftlichen Anſtalten. Alexandrien wurde durch die Schöpfungen
einer großherzigen und weiſen Politik Mittelpunkt der neuen geiſtigen
Bewegung; die intellektuelle Herrſchaft ging damit von Athen
dorthin über. Denn es bedurfte von jetzt ab der Obſervatorien
mit einem immer reicheren Apparat von Inſtrumenten, der
zoologiſchen und botaniſchen Gärten, der Anatomien und unge-
heuren Bibliotheken, um an der Spitze dieſer poſitiven Wiſſen-
ſchaften zu bleiben. Was nun geſchah, iſt nicht geringer, als
was die metaphyſiſche Bewegung bisher geſchaffen hatte. Wenn
das Eintreten der neueren europäiſchen Völker in das Stadium
der poſitiven Wiſſenſchaften vom fünfzehnten Jahrhundert ab
Renaiſſance iſt, ſo werden in dieſer die poſitiven Forſchungen da
aufgenommen, wo die Einzelwiſſenſchaften der Alten den Faden
ihrer Arbeit hatten fallen laſſen müſſen, und niemand glaube, daß
die Epiſode des italieniſchen Platonismus oder die Erneuerung des
reinen Ariſtoteles in Italien und Deutſchland den Kern der euro-
päiſchen Renaiſſance, ſofern ſie intellektuelle Entwicklung iſt, ge-
bildet habe.
Jedoch bildete der Erwerb des metaphyſiſchen Sta-
diums der alten Völker die Grundlage für die Leiſtungen dieſer
folgenden Zeit, in welcher das Schwergewicht des intellektuellen
Fortſchritts in den Einzelwiſſenſchaften lag. — Die erſte Bedingung
dieſes Fortſchritts ſind die erworbenen Begriffe. So hatte die
griechiſche Metaphyſik die Begriffe von Subſtanz und Atom hervor-
gebracht, die von Urſache und Bedingung oder Grund unterſchieden
und den Begriff von Form auf den einzelnen Gebieten durchgeführt.
Sie hatte Grundverhältniſſe, wie die Beziehung zwiſchen Struktur,
Funktion und Zweck in einem Organismus oder zwiſchen Leiſtung
und Antheil an Herrſchaft und Gütern in einem politiſchen Ganzen
aufgezeigt. — Die zweite Bedingung lag in der Entwicklung von
grundlegenden, wenn auch an Evidenz ungleichen Sätzen.
Solche waren: es giebt keinen Uebergang aus dem Nichts zum Sein
oder aus dieſem zurück in das Nichts; es kann nicht daſſelbe in
derſelben Beziehung behauptet und verneint werden; räumliche Be-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
| URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883 |
| URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/333 |
| Zitationshilfe: | Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/333>, abgerufen am 23.11.2024. |
