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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
vollständig in der später zu entwickelnden Erkenntniß vollziehen,
daß das Erlebniß des Selbstbewußtseins der Ausgangspunkt des
Substanzbegriffes ist, daß dieser Begriff aus der Anpassung dieses
Erlebnisses an die äußeren Erfahrungen, welche das nach dem
Satze vom Grunde fortschreitende Erkennen vollzogen hat, ent-
springt und so diese Lehre von den geistigen Substanzen nichts
als eine Rückübertragung des in einer solchen Metamorphose aus-
gebildeten Begriffs auf das Erlebniß ist, in welchem sein Ansatz
ursprünglich gegeben war.

An die Stelle des Gegensatzes von materiellen und geistigen
Substanzen trat der Gegensatz der Außenwelt, als des in der
äußeren Wahrnehmung (sensation) durch die Sinne Gegebenen,
zu der Innenwelt, als dem primär durch die innere Auffassung
der psychischen Ereignisse und Thätigkeiten (reflection) Dargebotenen.
Das Problem empfängt so eine bescheidenere, aber die Möglichkeit
empirischer Behandlung einschließende Fassung. Und es machen
sich nun angesichts der neuen besseren Methoden dieselben Erleb-
nisse geltend, welche in der Substanzenlehre der rationalen Psycho-
logie einen wissenschaftlich unhaltbaren Ausdruck gefunden hatten.

Zunächst genügt für die selbständige Constituirung der Geistes-
wissenschaften, daß auf diesem kritischen Standpunkt von den-
jenigen Vorgängen, die aus dem Material des in den Sinnen
Gegebenen, und nur aus diesem, durch denkende Verknüpfung ge-
bildet werden, sich die anderen als ein besonderer Umkreis von
Thatsachen absondern, welche primär in der inneren Erfahrung,
sonach ohne jede Mitwirkung der Sinne, gegeben sind, und welche
alsdann aus dem so primär gegebenen Material innerer Erfahrung
auf Anlaß äußerer Naturvorgänge formirt werden, um diesen
durch ein gewisses dem Analogieschluß in der Leistung gleich-
werthiges Verfahren untergelegt zu werden. So entsteht ein
eigenes Reich von Erfahrungen, welches im inneren Erlebniß
seinen selbständigen Ursprung und sein Material hat, und das
demnach naturgemäß Gegenstand einer besonderen Erfahrungs-
wissenschaft ist. Und so lange nicht Jemand behauptet, daß er
den Inbegriff von Leidenschaft, dichterischem Gestalten, denkendem

Erſtes einleitendes Buch.
vollſtändig in der ſpäter zu entwickelnden Erkenntniß vollziehen,
daß das Erlebniß des Selbſtbewußtſeins der Ausgangspunkt des
Subſtanzbegriffes iſt, daß dieſer Begriff aus der Anpaſſung dieſes
Erlebniſſes an die äußeren Erfahrungen, welche das nach dem
Satze vom Grunde fortſchreitende Erkennen vollzogen hat, ent-
ſpringt und ſo dieſe Lehre von den geiſtigen Subſtanzen nichts
als eine Rückübertragung des in einer ſolchen Metamorphoſe aus-
gebildeten Begriffs auf das Erlebniß iſt, in welchem ſein Anſatz
urſprünglich gegeben war.

An die Stelle des Gegenſatzes von materiellen und geiſtigen
Subſtanzen trat der Gegenſatz der Außenwelt, als des in der
äußeren Wahrnehmung (sensation) durch die Sinne Gegebenen,
zu der Innenwelt, als dem primär durch die innere Auffaſſung
der pſychiſchen Ereigniſſe und Thätigkeiten (reflection) Dargebotenen.
Das Problem empfängt ſo eine beſcheidenere, aber die Möglichkeit
empiriſcher Behandlung einſchließende Faſſung. Und es machen
ſich nun angeſichts der neuen beſſeren Methoden dieſelben Erleb-
niſſe geltend, welche in der Subſtanzenlehre der rationalen Pſycho-
logie einen wiſſenſchaftlich unhaltbaren Ausdruck gefunden hatten.

Zunächſt genügt für die ſelbſtändige Conſtituirung der Geiſtes-
wiſſenſchaften, daß auf dieſem kritiſchen Standpunkt von den-
jenigen Vorgängen, die aus dem Material des in den Sinnen
Gegebenen, und nur aus dieſem, durch denkende Verknüpfung ge-
bildet werden, ſich die anderen als ein beſonderer Umkreis von
Thatſachen abſondern, welche primär in der inneren Erfahrung,
ſonach ohne jede Mitwirkung der Sinne, gegeben ſind, und welche
alsdann aus dem ſo primär gegebenen Material innerer Erfahrung
auf Anlaß äußerer Naturvorgänge formirt werden, um dieſen
durch ein gewiſſes dem Analogieſchluß in der Leiſtung gleich-
werthiges Verfahren untergelegt zu werden. So entſteht ein
eigenes Reich von Erfahrungen, welches im inneren Erlebniß
ſeinen ſelbſtändigen Urſprung und ſein Material hat, und das
demnach naturgemäß Gegenſtand einer beſonderen Erfahrungs-
wiſſenſchaft iſt. Und ſo lange nicht Jemand behauptet, daß er
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[10/0033] Erſtes einleitendes Buch. vollſtändig in der ſpäter zu entwickelnden Erkenntniß vollziehen, daß das Erlebniß des Selbſtbewußtſeins der Ausgangspunkt des Subſtanzbegriffes iſt, daß dieſer Begriff aus der Anpaſſung dieſes Erlebniſſes an die äußeren Erfahrungen, welche das nach dem Satze vom Grunde fortſchreitende Erkennen vollzogen hat, ent- ſpringt und ſo dieſe Lehre von den geiſtigen Subſtanzen nichts als eine Rückübertragung des in einer ſolchen Metamorphoſe aus- gebildeten Begriffs auf das Erlebniß iſt, in welchem ſein Anſatz urſprünglich gegeben war. An die Stelle des Gegenſatzes von materiellen und geiſtigen Subſtanzen trat der Gegenſatz der Außenwelt, als des in der äußeren Wahrnehmung (sensation) durch die Sinne Gegebenen, zu der Innenwelt, als dem primär durch die innere Auffaſſung der pſychiſchen Ereigniſſe und Thätigkeiten (reflection) Dargebotenen. Das Problem empfängt ſo eine beſcheidenere, aber die Möglichkeit empiriſcher Behandlung einſchließende Faſſung. Und es machen ſich nun angeſichts der neuen beſſeren Methoden dieſelben Erleb- niſſe geltend, welche in der Subſtanzenlehre der rationalen Pſycho- logie einen wiſſenſchaftlich unhaltbaren Ausdruck gefunden hatten. Zunächſt genügt für die ſelbſtändige Conſtituirung der Geiſtes- wiſſenſchaften, daß auf dieſem kritiſchen Standpunkt von den- jenigen Vorgängen, die aus dem Material des in den Sinnen Gegebenen, und nur aus dieſem, durch denkende Verknüpfung ge- bildet werden, ſich die anderen als ein beſonderer Umkreis von Thatſachen abſondern, welche primär in der inneren Erfahrung, ſonach ohne jede Mitwirkung der Sinne, gegeben ſind, und welche alsdann aus dem ſo primär gegebenen Material innerer Erfahrung auf Anlaß äußerer Naturvorgänge formirt werden, um dieſen durch ein gewiſſes dem Analogieſchluß in der Leiſtung gleich- werthiges Verfahren untergelegt zu werden. So entſteht ein eigenes Reich von Erfahrungen, welches im inneren Erlebniß ſeinen ſelbſtändigen Urſprung und ſein Material hat, und das demnach naturgemäß Gegenſtand einer beſonderen Erfahrungs- wiſſenſchaft iſt. Und ſo lange nicht Jemand behauptet, daß er den Inbegriff von Leidenſchaft, dichteriſchem Geſtalten, denkendem

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/33>, abgerufen am 23.04.2024.