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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Diese Aufgabe entspr. d. Stadium d. Metaphysik d. substantialen Formen.
innerhalb der einzelnen Kreise zusammengehörigen Theilinhalte und
ersetzt z. B. Zweckvorstellungen, wie Aristoteles sie als Erklärungs-
gründe benutzte, durch angemessene Begriffe. Metaphysik in
ihrer herrschenden Stellung innerhalb der Wissenschaften ist eine
dem ersteren Stadium der Betrachtung korrelative
Thatsache
gewesen.

Die äußere Organisation der Gesellschaft in Staaten
hat am stärksten die Blicke der Forscher auf sich gezogen, welche
die gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenstand
machten. Denn hier bot sich das merkwürdige Phänomen einer
über die einzelnen Willen sich erhebenden Willenseinheit. Dies
Phänomen mußte den Griechen noch weit erstaunlicher als den
monarchischen Völkern des Ostens erscheinen. Denn letzteren stellte
sich die Willenseinheit in ihren Königen auf eine persönliche Weise
dar, dagegen war sie in diesen griechischen Politien gleichsam körper-
los. Dies Problem der Willenseinheit im Staate beschäftigte die
als Sophisten bezeichneten Schriftsteller. Mit einander ringende
Staaten bilden das Objekt der großen griechischen Historiker. Noch
war der Durchschnittsmensch, wie er in einer gegebenen Zeit lebt,
arbeitet, genießt und leidet, der Geschichte so wenig sichtbar als
die Menschheit. Dasselbe Problem beschäftigte die sokratische Schule
in erster Linie und es ward Gegenstand einer Theorie der Gesell-
schaft, welche dem metaphysischen Standpunkt des europäischen
Denkens entsprach. In der nun geschaffenen, vergleichenden Wissen-
schaft von Struktur und Formen der Staaten tritt die Korre-
spondenz zwischen einem sehr glücklichen deskriptiven Studium der
politischen Formen und der Metaphysik hervor.

Diese vergleichende Wissenschaft der Staaten geht, gemäß dem
Dargelegten, von der Betrachtung des Herrschaftsverhält-
nisses
aus, wie es in der Verfassung seinen Ausdruck gewinnt.
Verfassung ist für Aristoteles die Ordnung des Staates in Bezug
auf das Regiment der obrigkeitlichen Gewalten, insbesondere der
über ihnen allen stehenden souveränen Gewalt1). Bürger ist ihm

1) Arist. Polit. III, 6 p. 1278b 8.

Dieſe Aufgabe entſpr. d. Stadium d. Metaphyſik d. ſubſtantialen Formen.
innerhalb der einzelnen Kreiſe zuſammengehörigen Theilinhalte und
erſetzt z. B. Zweckvorſtellungen, wie Ariſtoteles ſie als Erklärungs-
gründe benutzte, durch angemeſſene Begriffe. Metaphyſik in
ihrer herrſchenden Stellung innerhalb der Wiſſenſchaften iſt eine
dem erſteren Stadium der Betrachtung korrelative
Thatſache
geweſen.

Die äußere Organiſation der Geſellſchaft in Staaten
hat am ſtärkſten die Blicke der Forſcher auf ſich gezogen, welche
die geſellſchaftlich-geſchichtliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenſtand
machten. Denn hier bot ſich das merkwürdige Phänomen einer
über die einzelnen Willen ſich erhebenden Willenseinheit. Dies
Phänomen mußte den Griechen noch weit erſtaunlicher als den
monarchiſchen Völkern des Oſtens erſcheinen. Denn letzteren ſtellte
ſich die Willenseinheit in ihren Königen auf eine perſönliche Weiſe
dar, dagegen war ſie in dieſen griechiſchen Politien gleichſam körper-
los. Dies Problem der Willenseinheit im Staate beſchäftigte die
als Sophiſten bezeichneten Schriftſteller. Mit einander ringende
Staaten bilden das Objekt der großen griechiſchen Hiſtoriker. Noch
war der Durchſchnittsmenſch, wie er in einer gegebenen Zeit lebt,
arbeitet, genießt und leidet, der Geſchichte ſo wenig ſichtbar als
die Menſchheit. Daſſelbe Problem beſchäftigte die ſokratiſche Schule
in erſter Linie und es ward Gegenſtand einer Theorie der Geſell-
ſchaft, welche dem metaphyſiſchen Standpunkt des europäiſchen
Denkens entſprach. In der nun geſchaffenen, vergleichenden Wiſſen-
ſchaft von Struktur und Formen der Staaten tritt die Korre-
ſpondenz zwiſchen einem ſehr glücklichen deſkriptiven Studium der
politiſchen Formen und der Metaphyſik hervor.

Dieſe vergleichende Wiſſenſchaft der Staaten geht, gemäß dem
Dargelegten, von der Betrachtung des Herrſchaftsverhält-
niſſes
aus, wie es in der Verfaſſung ſeinen Ausdruck gewinnt.
Verfaſſung iſt für Ariſtoteles die Ordnung des Staates in Bezug
auf das Regiment der obrigkeitlichen Gewalten, insbeſondere der
über ihnen allen ſtehenden ſouveränen Gewalt1). Bürger iſt ihm

1) Ariſt. Polit. III, 6 p. 1278b 8.
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[293/0316] Dieſe Aufgabe entſpr. d. Stadium d. Metaphyſik d. ſubſtantialen Formen. innerhalb der einzelnen Kreiſe zuſammengehörigen Theilinhalte und erſetzt z. B. Zweckvorſtellungen, wie Ariſtoteles ſie als Erklärungs- gründe benutzte, durch angemeſſene Begriffe. Metaphyſik in ihrer herrſchenden Stellung innerhalb der Wiſſenſchaften iſt eine dem erſteren Stadium der Betrachtung korrelative Thatſache geweſen. Die äußere Organiſation der Geſellſchaft in Staaten hat am ſtärkſten die Blicke der Forſcher auf ſich gezogen, welche die geſellſchaftlich-geſchichtliche Wirklichkeit zu ihrem Gegenſtand machten. Denn hier bot ſich das merkwürdige Phänomen einer über die einzelnen Willen ſich erhebenden Willenseinheit. Dies Phänomen mußte den Griechen noch weit erſtaunlicher als den monarchiſchen Völkern des Oſtens erſcheinen. Denn letzteren ſtellte ſich die Willenseinheit in ihren Königen auf eine perſönliche Weiſe dar, dagegen war ſie in dieſen griechiſchen Politien gleichſam körper- los. Dies Problem der Willenseinheit im Staate beſchäftigte die als Sophiſten bezeichneten Schriftſteller. Mit einander ringende Staaten bilden das Objekt der großen griechiſchen Hiſtoriker. Noch war der Durchſchnittsmenſch, wie er in einer gegebenen Zeit lebt, arbeitet, genießt und leidet, der Geſchichte ſo wenig ſichtbar als die Menſchheit. Daſſelbe Problem beſchäftigte die ſokratiſche Schule in erſter Linie und es ward Gegenſtand einer Theorie der Geſell- ſchaft, welche dem metaphyſiſchen Standpunkt des europäiſchen Denkens entſprach. In der nun geſchaffenen, vergleichenden Wiſſen- ſchaft von Struktur und Formen der Staaten tritt die Korre- ſpondenz zwiſchen einem ſehr glücklichen deſkriptiven Studium der politiſchen Formen und der Metaphyſik hervor. Dieſe vergleichende Wiſſenſchaft der Staaten geht, gemäß dem Dargelegten, von der Betrachtung des Herrſchaftsverhält- niſſes aus, wie es in der Verfaſſung ſeinen Ausdruck gewinnt. Verfaſſung iſt für Ariſtoteles die Ordnung des Staates in Bezug auf das Regiment der obrigkeitlichen Gewalten, insbeſondere der über ihnen allen ſtehenden ſouveränen Gewalt 1). Bürger iſt ihm 1) Ariſt. Polit. III, 6 p. 1278b 8.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/316>, abgerufen am 17.05.2024.