Dieser Mensch im Großen ist ein Tropus; die in diesem Tropus behauptete reale Einheit des Staates ist nicht nur unfaßbar -- das bleibt sie immer und überall, da sie eben Metaphysik ist --, es wird auch nicht versucht, den Tropus durch Begriffe aufzuklären. So folgenschwere inhaltliche Mängel verknüpfen sich mit einem allgemeineren Fehler methodischer Art. Der Staat soll verstanden werden, bevor die Interessen und Zweckzusammenhänge analysirt sind, welche seine Realität im Menschen bilden, vermöge deren er lebt und Kraft hat. Dieser Fehler hat zur Folge, daß an die Stelle des Zusammenhangs von Thatsachen (Zweckzusammen- hängen, Interessen) das metaphysische Fabelwesen des Menschen im Großen tritt1).
Aristoteles hat versucht, eine Formel an die Stelle dieses Tropus zu setzen. Er will den Begriff der realen Einheit, welche Staat ist, entwerfen. Seine Staatslehre ist gerade dadurch auch hier so belehrend, daß sie zeigt, wie dieser fundamentale Begriff der sozialen Metaphysik mit den anderen metaphysischen Haupt- begriffen die Eigenschaft theilt, der vollständigen Auflösung in einfach klare Gedankenelemente zu widerstehen.
Es ist dargelegt, daß die Subjekte für Aussagen über die gesellschaftliche Wirklichkeit in den Individuen gegeben sind. Die Subjekte der Aussagen über die Natur sind uns unzugänglich, dagegen die des gesellschaftlichen Lebens, des Thuns und Leidens wie der Zustände in demselben sind in der inneren Erfahrung ent- halten2). Aristoteles hat nun die vernünftigen Einzel- wesen als Substanzen bestimmt. Er hat andrerseits im Zusammenhang seiner Metaphysik den Staat, welcher aus solchen Einzelwesen besteht, als eine Einheit angesehen, die nicht eine nachträgliche Zusammenfügung derselben ist. Zwar hat er den Begriff des Staates seiner Metaphysik nicht eingeordnet, da diese vor der praktischen Welt, sonach gerade vor dem großen Problem
1) Vgl. Darlegung desselben Fehlers in der Philosophie der Geschichte S. 137 ff.
2) S. 135 ff.
Platos Staatsbegriff eine unhaltbare Abſtraktion.
Dieſer Menſch im Großen iſt ein Tropus; die in dieſem Tropus behauptete reale Einheit des Staates iſt nicht nur unfaßbar — das bleibt ſie immer und überall, da ſie eben Metaphyſik iſt —, es wird auch nicht verſucht, den Tropus durch Begriffe aufzuklären. So folgenſchwere inhaltliche Mängel verknüpfen ſich mit einem allgemeineren Fehler methodiſcher Art. Der Staat ſoll verſtanden werden, bevor die Intereſſen und Zweckzuſammenhänge analyſirt ſind, welche ſeine Realität im Menſchen bilden, vermöge deren er lebt und Kraft hat. Dieſer Fehler hat zur Folge, daß an die Stelle des Zuſammenhangs von Thatſachen (Zweckzuſammen- hängen, Intereſſen) das metaphyſiſche Fabelweſen des Menſchen im Großen tritt1).
Ariſtoteles hat verſucht, eine Formel an die Stelle dieſes Tropus zu ſetzen. Er will den Begriff der realen Einheit, welche Staat iſt, entwerfen. Seine Staatslehre iſt gerade dadurch auch hier ſo belehrend, daß ſie zeigt, wie dieſer fundamentale Begriff der ſozialen Metaphyſik mit den anderen metaphyſiſchen Haupt- begriffen die Eigenſchaft theilt, der vollſtändigen Auflöſung in einfach klare Gedankenelemente zu widerſtehen.
Es iſt dargelegt, daß die Subjekte für Ausſagen über die geſellſchaftliche Wirklichkeit in den Individuen gegeben ſind. Die Subjekte der Ausſagen über die Natur ſind uns unzugänglich, dagegen die des geſellſchaftlichen Lebens, des Thuns und Leidens wie der Zuſtände in demſelben ſind in der inneren Erfahrung ent- halten2). Ariſtoteles hat nun die vernünftigen Einzel- weſen als Subſtanzen beſtimmt. Er hat andrerſeits im Zuſammenhang ſeiner Metaphyſik den Staat, welcher aus ſolchen Einzelweſen beſteht, als eine Einheit angeſehen, die nicht eine nachträgliche Zuſammenfügung derſelben iſt. Zwar hat er den Begriff des Staates ſeiner Metaphyſik nicht eingeordnet, da dieſe vor der praktiſchen Welt, ſonach gerade vor dem großen Problem
1) Vgl. Darlegung deſſelben Fehlers in der Philoſophie der Geſchichte S. 137 ff.
2) S. 135 ff.
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Platos Staatsbegriff eine unhaltbare Abſtraktion.
Dieſer Menſch im Großen iſt ein Tropus; die in dieſem Tropus
behauptete reale Einheit des Staates iſt nicht nur unfaßbar — das
bleibt ſie immer und überall, da ſie eben Metaphyſik iſt —, es
wird auch nicht verſucht, den Tropus durch Begriffe aufzuklären.
So folgenſchwere inhaltliche Mängel verknüpfen ſich mit einem
allgemeineren Fehler methodiſcher Art. Der Staat ſoll verſtanden
werden, bevor die Intereſſen und Zweckzuſammenhänge analyſirt
ſind, welche ſeine Realität im Menſchen bilden, vermöge deren
er lebt und Kraft hat. Dieſer Fehler hat zur Folge, daß an
die Stelle des Zuſammenhangs von Thatſachen (Zweckzuſammen-
hängen, Intereſſen) das metaphyſiſche Fabelweſen des Menſchen
im Großen tritt 1).
Ariſtoteles hat verſucht, eine Formel an die Stelle dieſes
Tropus zu ſetzen. Er will den Begriff der realen Einheit, welche
Staat iſt, entwerfen. Seine Staatslehre iſt gerade dadurch auch
hier ſo belehrend, daß ſie zeigt, wie dieſer fundamentale Begriff
der ſozialen Metaphyſik mit den anderen metaphyſiſchen Haupt-
begriffen die Eigenſchaft theilt, der vollſtändigen Auflöſung in
einfach klare Gedankenelemente zu widerſtehen.
Es iſt dargelegt, daß die Subjekte für Ausſagen über die
geſellſchaftliche Wirklichkeit in den Individuen gegeben ſind. Die
Subjekte der Ausſagen über die Natur ſind uns unzugänglich,
dagegen die des geſellſchaftlichen Lebens, des Thuns und Leidens
wie der Zuſtände in demſelben ſind in der inneren Erfahrung ent-
halten 2). Ariſtoteles hat nun die vernünftigen Einzel-
weſen als Subſtanzen beſtimmt. Er hat andrerſeits im
Zuſammenhang ſeiner Metaphyſik den Staat, welcher aus ſolchen
Einzelweſen beſteht, als eine Einheit angeſehen, die nicht eine
nachträgliche Zuſammenfügung derſelben iſt. Zwar hat er den
Begriff des Staates ſeiner Metaphyſik nicht eingeordnet, da dieſe
vor der praktiſchen Welt, ſonach gerade vor dem großen Problem
1) Vgl. Darlegung deſſelben Fehlers in der Philoſophie der Geſchichte
S. 137 ff.
2) S. 135 ff.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/310>, abgerufen am 16.02.2025.
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