Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Zweites Buch. Zweiter Abschnitt. staltet nach den Ideen der Gerechtigkeit sowie der anderen Tugen-den aus dem Stoffe der Seelen den gesellschaftlichen Kosmos, wie der gute Gott den äußeren Kosmos gebildet hat. So entsteht der Mensch im Großen: eine reale Einheit wie der Einzelmensch. Die innere Unhaltbarkeit dieser Art von Metaphysik der Ge- Da Plato nicht von den Interessen der Individuen ausging, 1) Die Ableitung der polis aus der Arbeitstheilung und dem Ver-
kehr in Politie 369 ff. bestätigt dies nur. Denn sie zeigt, daß Plato die Tragweite der einzelnen Interessen für das Gemeinleben erwog, jedoch die Einheit des Willens in seinem Staate nicht auf sie gründen zu können glaubte. Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. ſtaltet nach den Ideen der Gerechtigkeit ſowie der anderen Tugen-den aus dem Stoffe der Seelen den geſellſchaftlichen Kosmos, wie der gute Gott den äußeren Kosmos gebildet hat. So entſteht der Menſch im Großen: eine reale Einheit wie der Einzelmenſch. Die innere Unhaltbarkeit dieſer Art von Metaphyſik der Ge- Da Plato nicht von den Intereſſen der Individuen ausging, 1) Die Ableitung der πόλις aus der Arbeitstheilung und dem Ver-
kehr in Politie 369 ff. beſtätigt dies nur. Denn ſie zeigt, daß Plato die Tragweite der einzelnen Intereſſen für das Gemeinleben erwog, jedoch die Einheit des Willens in ſeinem Staate nicht auf ſie gründen zu können glaubte. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0309" n="286"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.</fw><lb/> ſtaltet nach den Ideen der Gerechtigkeit ſowie der anderen Tugen-<lb/> den aus dem Stoffe der Seelen den geſellſchaftlichen Kosmos,<lb/> wie der gute Gott den äußeren Kosmos gebildet hat. So entſteht<lb/> der Menſch im Großen: eine reale Einheit wie der Einzelmenſch.</p><lb/> <p>Die innere Unhaltbarkeit dieſer Art von Metaphyſik der Ge-<lb/> ſellſchaft iſt augenſcheinlich. Die Analogie des Menſchen im<lb/> Großen verſchiebt nur das Problem, wie aus Einzelwillen ein<lb/> Geſammtwille d. h. ein Gefüge der Willen, welches einheitlich<lb/> wirkt, entſtehe. Plato hat ſeine Aufgabe weder für die Einzelſeele<lb/> noch für den Staat gelöſt. Vielmehr bilden ſeine Seelentheile<lb/> ſo wenig eine wirkliche pſychiſche Einheit, als ſeine drei Stände<lb/> eine einheitliche Geſellſchaft ausmachen können.</p><lb/> <p>Da Plato nicht von den Intereſſen der Individuen ausging,<lb/> von der Realität der menſchlichen Natur, wie ſie einmal iſt <note place="foot" n="1)">Die Ableitung der πόλις aus der Arbeitstheilung und dem Ver-<lb/> kehr in Politie 369 ff. beſtätigt dies nur. Denn ſie zeigt, daß Plato die<lb/> Tragweite der einzelnen Intereſſen für das Gemeinleben erwog, jedoch die<lb/> Einheit des Willens in ſeinem Staate nicht auf ſie gründen zu können<lb/> glaubte.</note>,<lb/> entſtand ihm nicht das Gefüge der Intereſſengemeinſchaft, welches die<lb/> Unterlage des wirklichen Staates bildet; vielmehr hat er dieſes als<lb/> das Niedrige mißachtet und Arbeit, Gewerbe, Handel keiner Unter-<lb/> ſuchung unterzogen. Die hier zu Grunde liegende falſch vor-<lb/> nehme Richtung iſt derjenigen verwandt, welche die Griechen auf<lb/> dem Gebiet der Naturerkenntniß überall zeigen. So bleiben Ge-<lb/> danke und phyſiſche Gewalt, den Staat zuſammen zu halten, da-<lb/> gegen gehen die Intereſſen der Stände in ihm auseinander und<lb/> müſſen ihn zerreißen. Mit einer Art von Abſolutismus des Ge-<lb/> dankens werden die realen Intereſſen der Individuen als bloßes<lb/> widerſtrebendes Material für den politiſchen Künſtler behandelt,<lb/> anſtatt daß das Gefüge von Abhängigkeit und Gemeinſchaft,<lb/> welches als ein Staatswille ſich darſtellt, als die Wirkung der<lb/> Intereſſenvereinigung erkannt worden wäre. So wird hier ein<lb/> Staat in die Luft gebaut. Es entſteht eine koncentrirteſte, aber<lb/> zugleich dem Spiele der Intereſſen gegenüber ohnmächtige Einheit.<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [286/0309]
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
ſtaltet nach den Ideen der Gerechtigkeit ſowie der anderen Tugen-
den aus dem Stoffe der Seelen den geſellſchaftlichen Kosmos,
wie der gute Gott den äußeren Kosmos gebildet hat. So entſteht
der Menſch im Großen: eine reale Einheit wie der Einzelmenſch.
Die innere Unhaltbarkeit dieſer Art von Metaphyſik der Ge-
ſellſchaft iſt augenſcheinlich. Die Analogie des Menſchen im
Großen verſchiebt nur das Problem, wie aus Einzelwillen ein
Geſammtwille d. h. ein Gefüge der Willen, welches einheitlich
wirkt, entſtehe. Plato hat ſeine Aufgabe weder für die Einzelſeele
noch für den Staat gelöſt. Vielmehr bilden ſeine Seelentheile
ſo wenig eine wirkliche pſychiſche Einheit, als ſeine drei Stände
eine einheitliche Geſellſchaft ausmachen können.
Da Plato nicht von den Intereſſen der Individuen ausging,
von der Realität der menſchlichen Natur, wie ſie einmal iſt 1),
entſtand ihm nicht das Gefüge der Intereſſengemeinſchaft, welches die
Unterlage des wirklichen Staates bildet; vielmehr hat er dieſes als
das Niedrige mißachtet und Arbeit, Gewerbe, Handel keiner Unter-
ſuchung unterzogen. Die hier zu Grunde liegende falſch vor-
nehme Richtung iſt derjenigen verwandt, welche die Griechen auf
dem Gebiet der Naturerkenntniß überall zeigen. So bleiben Ge-
danke und phyſiſche Gewalt, den Staat zuſammen zu halten, da-
gegen gehen die Intereſſen der Stände in ihm auseinander und
müſſen ihn zerreißen. Mit einer Art von Abſolutismus des Ge-
dankens werden die realen Intereſſen der Individuen als bloßes
widerſtrebendes Material für den politiſchen Künſtler behandelt,
anſtatt daß das Gefüge von Abhängigkeit und Gemeinſchaft,
welches als ein Staatswille ſich darſtellt, als die Wirkung der
Intereſſenvereinigung erkannt worden wäre. So wird hier ein
Staat in die Luft gebaut. Es entſteht eine koncentrirteſte, aber
zugleich dem Spiele der Intereſſen gegenüber ohnmächtige Einheit.
1) Die Ableitung der πόλις aus der Arbeitstheilung und dem Ver-
kehr in Politie 369 ff. beſtätigt dies nur. Denn ſie zeigt, daß Plato die
Tragweite der einzelnen Intereſſen für das Gemeinleben erwog, jedoch die
Einheit des Willens in ſeinem Staate nicht auf ſie gründen zu können
glaubte.
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