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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
als das, was das Vermögen zu wirken und zu leiden
besitzt, und nach anderen hat Leibniz diese Definition wieder auf-
genommen 2). Dieselbe führt den Begriff der Substanz in den der
Kraft, der ursächlichen Beziehung zurück und löst ihn in diesen auf.
Eine solche Begriffsbestimmung konnte sich in dem späteren Stadium,
in dem Leibniz auftrat, nützlich erweisen, um der Substanzvor-
stellung einen Begriff von größerer Verwerthbarkeit für die natur-
wissenschaftliche Betrachtung zu substituiren. Aber sie drückt nicht
das aus, was in dem Thatbestand des Dinges von uns vorge-
stellt ist und was folgerecht die dem Erkennen dienende Unter-
scheidung der Substanz und des ihr Inhärirenden abgrenzen
will. Der realistische Geist des Aristoteles war bemüht, dies
direkt zu bezeichnen.

Aristoteles bestimmt einerseits, was wir in dem realen
Zusammenhang
der Wirklichkeit unter Substanz uns vorstellen.
Sie ist das, was nicht Accidens von einem Anderen ist, von
dem
vielmehr Anderes Accidens ist; wo von der Einzel-
substanz und ihrem Substratum die Rede ist, drückt dies Aristoteles
durch eine bildliche, räumliche Vorstellung aus. Er stellt andrer-
seits fest, was wir in dem Denkzusammenhang unter Substanz
vorstellen. In diesem ist die Substanz Subjekt; sie bezeichnet
das, was im Urtheil Träger von prädikativen Bestimmungen
ist; daher werden alle anderen Formen der Aussage (Kategorien)
von der Substanz prädicirt 3).

Verknüpft man diese letztere Bestimmung mit den früheren:
so sucht Aristoteles in der Metaphysik das Subjekt oder die
Subjekte für alle Eigenschaften und Veränderungen, die uns am
Kosmos entgegentreten. Dies ist die Beschaffenheit aller meta-
physischen Geistesrichtung: dieselbe ist nicht auf den Zusammen-
hang gerichtet, in welchem Zustände und Veränderungen mit ein-
ander verbunden sind, sondern geht geradenweges auf das da-
hinterliegende Subjekt oder die dahinter liegenden Subjekte.


2) ipsam rerum substantiam in agendi patiendique vi consistere
Leibn. opp. I, 156. Erdm.
3) kategorountai kata ton ousion. Vgl. Bonitz ind. Ar. unter ousia.

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
als das, was das Vermögen zu wirken und zu leiden
beſitzt, und nach anderen hat Leibniz dieſe Definition wieder auf-
genommen 2). Dieſelbe führt den Begriff der Subſtanz in den der
Kraft, der urſächlichen Beziehung zurück und löſt ihn in dieſen auf.
Eine ſolche Begriffsbeſtimmung konnte ſich in dem ſpäteren Stadium,
in dem Leibniz auftrat, nützlich erweiſen, um der Subſtanzvor-
ſtellung einen Begriff von größerer Verwerthbarkeit für die natur-
wiſſenſchaftliche Betrachtung zu ſubſtituiren. Aber ſie drückt nicht
das aus, was in dem Thatbeſtand des Dinges von uns vorge-
ſtellt iſt und was folgerecht die dem Erkennen dienende Unter-
ſcheidung der Subſtanz und des ihr Inhärirenden abgrenzen
will. Der realiſtiſche Geiſt des Ariſtoteles war bemüht, dies
direkt zu bezeichnen.

Ariſtoteles beſtimmt einerſeits, was wir in dem realen
Zuſammenhang
der Wirklichkeit unter Subſtanz uns vorſtellen.
Sie iſt das, was nicht Accidens von einem Anderen iſt, von
dem
vielmehr Anderes Accidens iſt; wo von der Einzel-
ſubſtanz und ihrem Subſtratum die Rede iſt, drückt dies Ariſtoteles
durch eine bildliche, räumliche Vorſtellung aus. Er ſtellt andrer-
ſeits feſt, was wir in dem Denkzuſammenhang unter Subſtanz
vorſtellen. In dieſem iſt die Subſtanz Subjekt; ſie bezeichnet
das, was im Urtheil Träger von prädikativen Beſtimmungen
iſt; daher werden alle anderen Formen der Ausſage (Kategorien)
von der Subſtanz prädicirt 3).

Verknüpft man dieſe letztere Beſtimmung mit den früheren:
ſo ſucht Ariſtoteles in der Metaphyſik das Subjekt oder die
Subjekte für alle Eigenſchaften und Veränderungen, die uns am
Kosmos entgegentreten. Dies iſt die Beſchaffenheit aller meta-
phyſiſchen Geiſtesrichtung: dieſelbe iſt nicht auf den Zuſammen-
hang gerichtet, in welchem Zuſtände und Veränderungen mit ein-
ander verbunden ſind, ſondern geht geradenweges auf das da-
hinterliegende Subjekt oder die dahinter liegenden Subjekte.


2) ipsam rerum substantiam in agendi patiendique vi consistere
Leibn. opp. I, 156. Erdm.
3) κατηγοϱοῦνται κατὰ τῶν οὐσιῶν. Vgl. Bonitz ind. Ar. unter οὐσία.
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[256/0279] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. als das, was das Vermögen zu wirken und zu leiden beſitzt, und nach anderen hat Leibniz dieſe Definition wieder auf- genommen 2). Dieſelbe führt den Begriff der Subſtanz in den der Kraft, der urſächlichen Beziehung zurück und löſt ihn in dieſen auf. Eine ſolche Begriffsbeſtimmung konnte ſich in dem ſpäteren Stadium, in dem Leibniz auftrat, nützlich erweiſen, um der Subſtanzvor- ſtellung einen Begriff von größerer Verwerthbarkeit für die natur- wiſſenſchaftliche Betrachtung zu ſubſtituiren. Aber ſie drückt nicht das aus, was in dem Thatbeſtand des Dinges von uns vorge- ſtellt iſt und was folgerecht die dem Erkennen dienende Unter- ſcheidung der Subſtanz und des ihr Inhärirenden abgrenzen will. Der realiſtiſche Geiſt des Ariſtoteles war bemüht, dies direkt zu bezeichnen. Ariſtoteles beſtimmt einerſeits, was wir in dem realen Zuſammenhang der Wirklichkeit unter Subſtanz uns vorſtellen. Sie iſt das, was nicht Accidens von einem Anderen iſt, von dem vielmehr Anderes Accidens iſt; wo von der Einzel- ſubſtanz und ihrem Subſtratum die Rede iſt, drückt dies Ariſtoteles durch eine bildliche, räumliche Vorſtellung aus. Er ſtellt andrer- ſeits feſt, was wir in dem Denkzuſammenhang unter Subſtanz vorſtellen. In dieſem iſt die Subſtanz Subjekt; ſie bezeichnet das, was im Urtheil Träger von prädikativen Beſtimmungen iſt; daher werden alle anderen Formen der Ausſage (Kategorien) von der Subſtanz prädicirt 3). Verknüpft man dieſe letztere Beſtimmung mit den früheren: ſo ſucht Ariſtoteles in der Metaphyſik das Subjekt oder die Subjekte für alle Eigenſchaften und Veränderungen, die uns am Kosmos entgegentreten. Dies iſt die Beſchaffenheit aller meta- phyſiſchen Geiſtesrichtung: dieſelbe iſt nicht auf den Zuſammen- hang gerichtet, in welchem Zuſtände und Veränderungen mit ein- ander verbunden ſind, ſondern geht geradenweges auf das da- hinterliegende Subjekt oder die dahinter liegenden Subjekte. 2) ipsam rerum substantiam in agendi patiendique vi consistere Leibn. opp. I, 156. Erdm. 3) κατηγοϱοῦνται κατὰ τῶν οὐσιῶν. Vgl. Bonitz ind. Ar. unter οὐσία.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 256. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/279>, abgerufen am 18.05.2024.