Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite
Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.

Die weltgeschichtliche Bedeutung der aristotelischen
Logik
liegt nun darin, daß in ihr die Formen dieses vermittelnden
Denkens zuerst in folgerechter Vollständigkeit abgelöst betrachtet
wurden, und zwar mit einem logischen Verstande ersten Ranges. So
entstand die Schlußlehre 1). Für jene Zeit bot diese Logik zunächst
einen Schlüssel zur Auflösung der Streitsätze der Sophisten und
beendete daher die lange revolutionäre Bewegung, welche die
Periode der Sophisten, des Socrates, Antisthenes, sowie der Megariker
erfüllt hatte. Alsdann enthielt dieselbe die Hilfsmittel für die formale
Durchbildung der Einzelwissenschaften. Wie die Mathematik dem
Aristoteles das bedeutendste Beispiel logischer Entwicklungen in
jener Zeit darbieten mußte, so hat sein logisches Gesetzbuch auch
wieder rückwärts die Mittel gewährt, der Geometrie als Wissen-
schaft die einfach strenge, mustergiltige Form zu geben, welche
das Elementarwerk des Euklid zeigt, und diese Form ist dann
das Vorbild mathematischer Entwicklungen für alle Folgezeit ge-
worden 2).

Die Grenzen der aristotelischen Logik waren durch die
zu enge Beziehung derselben zu der Metaphysik bedingt. In
Bezug auf das Einfache ist Wahrheit ein Erfassen in Ge-
danken, eine Art von Berührung (thigganein), wie dieselbe die
letzte Voraussetzung dieses griechischen Objektivismus bildet; in
Bezug auf das Zusammengesetzte ist Wahrheit diejenige Zusammen-
fügung im Denken, welche der im Seienden entsprechend ist, Irr-
thum aber ist die andere, welche ihr widerspricht 3). Sonach haben
wir das Verhältniß der Korrespondenz auch auf das Gebiet
des vermittelnden Denkens auszudehnen; die Formen dieses
Denkens und die Beziehungen im Seienden entsprechen einander.

men genos ekhomen alethes, nous an eie epistemes arkhe. kai e men
arkhe tes arkhes eie an, e de pasa omoios ekhei pros to apan pragma.
1) Dies erklärt er selber mit berechtigtem Selbstgefühl Elench. soph.
33 p. 183 b 34 p. 184 b
1.
2) Proclus in seinem Kommentar zu Euklid (p. 70 Friedl.) berichtet,
daß Euklid eine besondere Schrift über die Trugschlüsse verfaßte, was seine
eingehende Beschäftigung mit der logischen Theorie beweist.
3) Arist. Metaph. IX, 10 p. 1051 a 34 vgl. IV, 7 p. 1011 b 23.
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.

Die weltgeſchichtliche Bedeutung der ariſtoteliſchen
Logik
liegt nun darin, daß in ihr die Formen dieſes vermittelnden
Denkens zuerſt in folgerechter Vollſtändigkeit abgelöſt betrachtet
wurden, und zwar mit einem logiſchen Verſtande erſten Ranges. So
entſtand die Schlußlehre 1). Für jene Zeit bot dieſe Logik zunächſt
einen Schlüſſel zur Auflöſung der Streitſätze der Sophiſten und
beendete daher die lange revolutionäre Bewegung, welche die
Periode der Sophiſten, des Socrates, Antiſthenes, ſowie der Megariker
erfüllt hatte. Alsdann enthielt dieſelbe die Hilfsmittel für die formale
Durchbildung der Einzelwiſſenſchaften. Wie die Mathematik dem
Ariſtoteles das bedeutendſte Beiſpiel logiſcher Entwicklungen in
jener Zeit darbieten mußte, ſo hat ſein logiſches Geſetzbuch auch
wieder rückwärts die Mittel gewährt, der Geometrie als Wiſſen-
ſchaft die einfach ſtrenge, muſtergiltige Form zu geben, welche
das Elementarwerk des Euklid zeigt, und dieſe Form iſt dann
das Vorbild mathematiſcher Entwicklungen für alle Folgezeit ge-
worden 2).

Die Grenzen der ariſtoteliſchen Logik waren durch die
zu enge Beziehung derſelben zu der Metaphyſik bedingt. In
Bezug auf das Einfache iſt Wahrheit ein Erfaſſen in Ge-
danken, eine Art von Berührung (ϑιγγάνειν), wie dieſelbe die
letzte Vorausſetzung dieſes griechiſchen Objektivismus bildet; in
Bezug auf das Zuſammengeſetzte iſt Wahrheit diejenige Zuſammen-
fügung im Denken, welche der im Seienden entſprechend iſt, Irr-
thum aber iſt die andere, welche ihr widerſpricht 3). Sonach haben
wir das Verhältniß der Korreſpondenz auch auf das Gebiet
des vermittelnden Denkens auszudehnen; die Formen dieſes
Denkens und die Beziehungen im Seienden entſprechen einander.

μην γένος ἔχομεν ἀληϑές, νοῦς ἂν εἴη ἐπιστήμης ἀϱχή. καὶ ἡ μὲν
ἀϱχὴ τῆς ἀϱχῆς εἴη ἄν, ἡ δὲ πᾶσα ὁμοίως ἔχει πϱὸς τὸ ἅπαν πϱᾶγμα.
1) Dies erklärt er ſelber mit berechtigtem Selbſtgefühl Elench. soph.
33 p. 183 b 34 p. 184 b
1.
2) Proclus in ſeinem Kommentar zu Euklid (p. 70 Friedl.) berichtet,
daß Euklid eine beſondere Schrift über die Trugſchlüſſe verfaßte, was ſeine
eingehende Beſchäftigung mit der logiſchen Theorie beweiſt.
3) Ariſt. Metaph. IX, 10 p. 1051 a 34 vgl. IV, 7 p. 1011 b 23.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0271" n="248"/>
              <fw place="top" type="header">Zweites Buch. Zweiter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
              <p>Die weltge&#x017F;chichtliche <hi rendition="#g">Bedeutung</hi> der <hi rendition="#g">ari&#x017F;toteli&#x017F;chen<lb/>
Logik</hi> liegt nun darin, daß in ihr die Formen die&#x017F;es vermittelnden<lb/>
Denkens zuer&#x017F;t in folgerechter Voll&#x017F;tändigkeit abgelö&#x017F;t betrachtet<lb/>
wurden, und zwar mit einem logi&#x017F;chen Ver&#x017F;tande er&#x017F;ten Ranges. So<lb/>
ent&#x017F;tand die Schlußlehre <note place="foot" n="1)">Dies erklärt er &#x017F;elber mit berechtigtem Selb&#x017F;tgefühl <hi rendition="#aq">Elench. soph.<lb/>
33 p. 183 <hi rendition="#sup">b</hi> 34 p. 184 <hi rendition="#sup">b</hi></hi> 1.</note>. Für jene Zeit bot die&#x017F;e Logik zunäch&#x017F;t<lb/>
einen Schlü&#x017F;&#x017F;el zur Auflö&#x017F;ung der Streit&#x017F;ätze der Sophi&#x017F;ten und<lb/>
beendete daher die lange revolutionäre Bewegung, welche die<lb/>
Periode der Sophi&#x017F;ten, des Socrates, Anti&#x017F;thenes, &#x017F;owie der Megariker<lb/>
erfüllt hatte. Alsdann enthielt die&#x017F;elbe die Hilfsmittel für die formale<lb/>
Durchbildung der Einzelwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften. Wie die Mathematik dem<lb/>
Ari&#x017F;toteles das bedeutend&#x017F;te Bei&#x017F;piel logi&#x017F;cher Entwicklungen in<lb/>
jener Zeit darbieten mußte, &#x017F;o hat &#x017F;ein logi&#x017F;ches Ge&#x017F;etzbuch auch<lb/>
wieder rückwärts die Mittel gewährt, der Geometrie als Wi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaft die einfach &#x017F;trenge, mu&#x017F;tergiltige Form zu geben, welche<lb/>
das Elementarwerk des Euklid zeigt, und die&#x017F;e Form i&#x017F;t dann<lb/>
das Vorbild mathemati&#x017F;cher Entwicklungen für alle Folgezeit ge-<lb/>
worden <note place="foot" n="2)">Proclus in &#x017F;einem Kommentar zu Euklid (<hi rendition="#aq">p.</hi> 70 Friedl.) berichtet,<lb/>
daß Euklid eine be&#x017F;ondere Schrift über die Trug&#x017F;chlü&#x017F;&#x017F;e verfaßte, was &#x017F;eine<lb/>
eingehende Be&#x017F;chäftigung mit der logi&#x017F;chen Theorie bewei&#x017F;t.</note>.</p><lb/>
              <p>Die <hi rendition="#g">Grenzen</hi> der ari&#x017F;toteli&#x017F;chen Logik waren durch die<lb/>
zu enge Beziehung der&#x017F;elben zu der Metaphy&#x017F;ik bedingt. In<lb/>
Bezug auf das Einfache i&#x017F;t Wahrheit ein Erfa&#x017F;&#x017F;en in Ge-<lb/>
danken, eine Art von Berührung (&#x03D1;&#x03B9;&#x03B3;&#x03B3;&#x03AC;&#x03BD;&#x03B5;&#x03B9;&#x03BD;), wie die&#x017F;elbe die<lb/>
letzte Voraus&#x017F;etzung die&#x017F;es griechi&#x017F;chen Objektivismus bildet; in<lb/>
Bezug auf das Zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzte i&#x017F;t Wahrheit diejenige Zu&#x017F;ammen-<lb/>
fügung im Denken, welche der im Seienden ent&#x017F;prechend i&#x017F;t, Irr-<lb/>
thum aber i&#x017F;t die andere, welche ihr wider&#x017F;pricht <note place="foot" n="3)">Ari&#x017F;t. <hi rendition="#aq">Metaph. IX, 10 p. 1051 <hi rendition="#sup">a</hi></hi> 34 vgl. <hi rendition="#aq">IV, 7 p. 1011 <hi rendition="#sup">b</hi></hi> 23.</note>. Sonach haben<lb/>
wir das Verhältniß der <hi rendition="#g">Korre&#x017F;pondenz</hi> auch auf das Gebiet<lb/>
des <hi rendition="#g">vermittelnden Denkens</hi> auszudehnen; die Formen die&#x017F;es<lb/>
Denkens und die Beziehungen im Seienden ent&#x017F;prechen einander.<lb/><note xml:id="note-0271" prev="#note-0270" place="foot" n="1)">&#x03BC;&#x03B7;&#x03BD; &#x03B3;&#x03AD;&#x03BD;&#x03BF;&#x03C2; &#x1F14;&#x03C7;&#x03BF;&#x03BC;&#x03B5;&#x03BD; &#x1F00;&#x03BB;&#x03B7;&#x03D1;&#x03AD;&#x03C2;, &#x03BD;&#x03BF;&#x1FE6;&#x03C2; &#x1F02;&#x03BD; &#x03B5;&#x1F34;&#x03B7; &#x1F10;&#x03C0;&#x03B9;&#x03C3;&#x03C4;&#x03AE;&#x03BC;&#x03B7;&#x03C2; &#x1F00;&#x03F1;&#x03C7;&#x03AE;. &#x03BA;&#x03B1;&#x1F76; &#x1F21; &#x03BC;&#x1F72;&#x03BD;<lb/>
&#x1F00;&#x03F1;&#x03C7;&#x1F74; &#x03C4;&#x1FC6;&#x03C2; &#x1F00;&#x03F1;&#x03C7;&#x1FC6;&#x03C2; &#x03B5;&#x1F34;&#x03B7; &#x1F04;&#x03BD;, &#x1F21; &#x03B4;&#x1F72; &#x03C0;&#x1FB6;&#x03C3;&#x03B1; &#x1F41;&#x03BC;&#x03BF;&#x03AF;&#x03C9;&#x03C2; &#x1F14;&#x03C7;&#x03B5;&#x03B9; &#x03C0;&#x03F1;&#x1F78;&#x03C2; &#x03C4;&#x1F78; &#x1F05;&#x03C0;&#x03B1;&#x03BD; &#x03C0;&#x03F1;&#x1FB6;&#x03B3;&#x03BC;&#x03B1;.</note><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[248/0271] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Die weltgeſchichtliche Bedeutung der ariſtoteliſchen Logik liegt nun darin, daß in ihr die Formen dieſes vermittelnden Denkens zuerſt in folgerechter Vollſtändigkeit abgelöſt betrachtet wurden, und zwar mit einem logiſchen Verſtande erſten Ranges. So entſtand die Schlußlehre 1). Für jene Zeit bot dieſe Logik zunächſt einen Schlüſſel zur Auflöſung der Streitſätze der Sophiſten und beendete daher die lange revolutionäre Bewegung, welche die Periode der Sophiſten, des Socrates, Antiſthenes, ſowie der Megariker erfüllt hatte. Alsdann enthielt dieſelbe die Hilfsmittel für die formale Durchbildung der Einzelwiſſenſchaften. Wie die Mathematik dem Ariſtoteles das bedeutendſte Beiſpiel logiſcher Entwicklungen in jener Zeit darbieten mußte, ſo hat ſein logiſches Geſetzbuch auch wieder rückwärts die Mittel gewährt, der Geometrie als Wiſſen- ſchaft die einfach ſtrenge, muſtergiltige Form zu geben, welche das Elementarwerk des Euklid zeigt, und dieſe Form iſt dann das Vorbild mathematiſcher Entwicklungen für alle Folgezeit ge- worden 2). Die Grenzen der ariſtoteliſchen Logik waren durch die zu enge Beziehung derſelben zu der Metaphyſik bedingt. In Bezug auf das Einfache iſt Wahrheit ein Erfaſſen in Ge- danken, eine Art von Berührung (ϑιγγάνειν), wie dieſelbe die letzte Vorausſetzung dieſes griechiſchen Objektivismus bildet; in Bezug auf das Zuſammengeſetzte iſt Wahrheit diejenige Zuſammen- fügung im Denken, welche der im Seienden entſprechend iſt, Irr- thum aber iſt die andere, welche ihr widerſpricht 3). Sonach haben wir das Verhältniß der Korreſpondenz auch auf das Gebiet des vermittelnden Denkens auszudehnen; die Formen dieſes Denkens und die Beziehungen im Seienden entſprechen einander. 1) 1) Dies erklärt er ſelber mit berechtigtem Selbſtgefühl Elench. soph. 33 p. 183 b 34 p. 184 b 1. 2) Proclus in ſeinem Kommentar zu Euklid (p. 70 Friedl.) berichtet, daß Euklid eine beſondere Schrift über die Trugſchlüſſe verfaßte, was ſeine eingehende Beſchäftigung mit der logiſchen Theorie beweiſt. 3) Ariſt. Metaph. IX, 10 p. 1051 a 34 vgl. IV, 7 p. 1011 b 23. 1) μην γένος ἔχομεν ἀληϑές, νοῦς ἂν εἴη ἐπιστήμης ἀϱχή. καὶ ἡ μὲν ἀϱχὴ τῆς ἀϱχῆς εἴη ἄν, ἡ δὲ πᾶσα ὁμοίως ἔχει πϱὸς τὸ ἅπαν πϱᾶγμα.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/271
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/271>, abgerufen am 18.05.2024.