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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
wirkende Kraft Eine sei. -- Endlich: die Betrachtung der inneren
Zweckmäßigkeit des Weltgebäudes wie der einzelnen Organisationen
der Erde ließ diesen ersten Beweger als einen nach innerer Zweck-
mäßigkeit wirkenden Nus erkennen. Diese Zweckmäßigkeit des
Weltalls ist aber nicht seine Angemessenheit für die Zwecke des
Menschen, sondern die immanente, deren Ausdruck die Schönheit,
deren Folgethatsache der einheitliche Zusammenhang für einen Ver-
stand ist, welche daher auf Einen ordnenden, aber sozusagen un-
persönlichen Verstand zurückweist 1).

So entsprang in der schönsten Epoche der griechischen Ge-
schichte aus der Wissenschaft vom Kosmos, insbesondere aus der
astronomischen Forschung, der griechische Monotheismus d. h. der
Gedanke von dem bewußten Zweck als Leiter des einheitlichen und
zweckmäßigen Bewegungsinbegriffs im Kosmos und von der Ver-
nunft als dem selbständigen, zweckmäßig wirkenden Beweger. Der
Mann, der ihn entwarf, ward von der athenischen Bevölkerung
jener Tage mit einer Mischung von Bewußtsein seiner fremdartigen
Erhabenheit und von Scherz der Nus genannt. Den Kreis von Ana-
xagoras, Pericles und Phidias umgab diese große Lehre mit einer
Fremdartigkeit, die von dem altgläubigen Volke stark empfunden
wurde und ihn unpopulär machte. In dem Zeus des Phidias
empfing dieser Gedanke seinen künstlerischen Ausdruck.

Es ist hier nicht der Ort, darzulegen, wie Anaxagoras
die Schwierigkeiten überwand, welche die Durchführung seines
großen Gedankens im Einzelnen darbot. -- Den ersten Schritt
in seiner genaueren Konstruktion der Weltentstehung nöthigte
ihm eine eingebildete Schwierigkeit ab. Die Sache ist sehr
bezeichnend für das Vorherrschen der Vorstellungen von geo-
metrischer Regelmäßigkeit im griechischen Geiste. Die schiefe Stellung
des Pols und der parallelen Kreise der Gestirne zum Horizont
bestimmte ihn zu der Annahme, ursprünglich habe die Drehung

1) Arist. de anima I, 2 p. 404 b 1 von Anaxagoras: pollakhou men
gar to aition tou kalos kai orthos ton noun legei. Anaxagoras selbst
(Mullach I, 249 fr. 6): kai okoia emelle esesthai kai okoia en kai assa
nun esti kai okoia estai, panta diekosmese noos.

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
wirkende Kraft Eine ſei. — Endlich: die Betrachtung der inneren
Zweckmäßigkeit des Weltgebäudes wie der einzelnen Organiſationen
der Erde ließ dieſen erſten Beweger als einen nach innerer Zweck-
mäßigkeit wirkenden Nus erkennen. Dieſe Zweckmäßigkeit des
Weltalls iſt aber nicht ſeine Angemeſſenheit für die Zwecke des
Menſchen, ſondern die immanente, deren Ausdruck die Schönheit,
deren Folgethatſache der einheitliche Zuſammenhang für einen Ver-
ſtand iſt, welche daher auf Einen ordnenden, aber ſozuſagen un-
perſönlichen Verſtand zurückweiſt 1).

So entſprang in der ſchönſten Epoche der griechiſchen Ge-
ſchichte aus der Wiſſenſchaft vom Kosmos, insbeſondere aus der
aſtronomiſchen Forſchung, der griechiſche Monotheismus d. h. der
Gedanke von dem bewußten Zweck als Leiter des einheitlichen und
zweckmäßigen Bewegungsinbegriffs im Kosmos und von der Ver-
nunft als dem ſelbſtändigen, zweckmäßig wirkenden Beweger. Der
Mann, der ihn entwarf, ward von der atheniſchen Bevölkerung
jener Tage mit einer Miſchung von Bewußtſein ſeiner fremdartigen
Erhabenheit und von Scherz der Nus genannt. Den Kreis von Ana-
xagoras, Pericles und Phidias umgab dieſe große Lehre mit einer
Fremdartigkeit, die von dem altgläubigen Volke ſtark empfunden
wurde und ihn unpopulär machte. In dem Zeus des Phidias
empfing dieſer Gedanke ſeinen künſtleriſchen Ausdruck.

Es iſt hier nicht der Ort, darzulegen, wie Anaxagoras
die Schwierigkeiten überwand, welche die Durchführung ſeines
großen Gedankens im Einzelnen darbot. — Den erſten Schritt
in ſeiner genaueren Konſtruktion der Weltentſtehung nöthigte
ihm eine eingebildete Schwierigkeit ab. Die Sache iſt ſehr
bezeichnend für das Vorherrſchen der Vorſtellungen von geo-
metriſcher Regelmäßigkeit im griechiſchen Geiſte. Die ſchiefe Stellung
des Pols und der parallelen Kreiſe der Geſtirne zum Horizont
beſtimmte ihn zu der Annahme, urſprünglich habe die Drehung

1) Ariſt. de anima I, 2 p. 404 b 1 von Anaxagoras: πολλαχοῦ μὲν
γὰϱ τὸ αἴτιον τοῦ καλῶς καὶ ὀϱϑῶς τὸν νοῦν λέγει. Anaxagoras ſelbſt
(Mullach I, 249 fr. 6): καὶ ὁκοῖα ἔμελλε ἔσεσϑαι καὶ ὁκοῖα ἦν καὶ ἅσσα
νῦν ἔστι καὶ ὁκοῖα ἔσται, πάντα διεκόσμησε νόος.
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[208/0231] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. wirkende Kraft Eine ſei. — Endlich: die Betrachtung der inneren Zweckmäßigkeit des Weltgebäudes wie der einzelnen Organiſationen der Erde ließ dieſen erſten Beweger als einen nach innerer Zweck- mäßigkeit wirkenden Nus erkennen. Dieſe Zweckmäßigkeit des Weltalls iſt aber nicht ſeine Angemeſſenheit für die Zwecke des Menſchen, ſondern die immanente, deren Ausdruck die Schönheit, deren Folgethatſache der einheitliche Zuſammenhang für einen Ver- ſtand iſt, welche daher auf Einen ordnenden, aber ſozuſagen un- perſönlichen Verſtand zurückweiſt 1). So entſprang in der ſchönſten Epoche der griechiſchen Ge- ſchichte aus der Wiſſenſchaft vom Kosmos, insbeſondere aus der aſtronomiſchen Forſchung, der griechiſche Monotheismus d. h. der Gedanke von dem bewußten Zweck als Leiter des einheitlichen und zweckmäßigen Bewegungsinbegriffs im Kosmos und von der Ver- nunft als dem ſelbſtändigen, zweckmäßig wirkenden Beweger. Der Mann, der ihn entwarf, ward von der atheniſchen Bevölkerung jener Tage mit einer Miſchung von Bewußtſein ſeiner fremdartigen Erhabenheit und von Scherz der Nus genannt. Den Kreis von Ana- xagoras, Pericles und Phidias umgab dieſe große Lehre mit einer Fremdartigkeit, die von dem altgläubigen Volke ſtark empfunden wurde und ihn unpopulär machte. In dem Zeus des Phidias empfing dieſer Gedanke ſeinen künſtleriſchen Ausdruck. Es iſt hier nicht der Ort, darzulegen, wie Anaxagoras die Schwierigkeiten überwand, welche die Durchführung ſeines großen Gedankens im Einzelnen darbot. — Den erſten Schritt in ſeiner genaueren Konſtruktion der Weltentſtehung nöthigte ihm eine eingebildete Schwierigkeit ab. Die Sache iſt ſehr bezeichnend für das Vorherrſchen der Vorſtellungen von geo- metriſcher Regelmäßigkeit im griechiſchen Geiſte. Die ſchiefe Stellung des Pols und der parallelen Kreiſe der Geſtirne zum Horizont beſtimmte ihn zu der Annahme, urſprünglich habe die Drehung 1) Ariſt. de anima I, 2 p. 404 b 1 von Anaxagoras: πολλαχοῦ μὲν γὰϱ τὸ αἴτιον τοῦ καλῶς καὶ ὀϱϑῶς τὸν νοῦν λέγει. Anaxagoras ſelbſt (Mullach I, 249 fr. 6): καὶ ὁκοῖα ἔμελλε ἔσεσϑαι καὶ ὁκοῖα ἦν καὶ ἅσσα νῦν ἔστι καὶ ὁκοῖα ἔσται, πάντα διεκόσμησε νόος.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/231>, abgerufen am 22.11.2024.