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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Parmenides.
Gewalt anthun, und seine Schule, die Gesellschaft der "Fließenden",
verfiel naturgemäß dem Skepticismus. Denn besteht nur der
Fluß der Dinge d. h. der Umsatz eines Zustandes der Materie
in den andern, fällt sonach die Konstanz nur in das Gesetz dieses
Umsatzes: alsdann kann ein Prinzip, welches Träger dieser Um-
satzbewegung wäre, nicht unterschieden werden. Wenn also Hera-
klit auch nur symbolisch das Feuer als ein solches Prinzip be-
zeichnete, so verfiel sein System damit dem inneren Widerspruch.
Auch wurden ferner die regelmäßigen und konstanten Kreisbe-
wegungen der Gestirne einer Erklärung aus dem Prinzip der
Umwandlung unterworfen, und hierbei mußte sich zeigen, daß die
stätige, unveränderliche Ursache, welche sie fordern, mit der
Rhythmik der Umsätze in Widerspruch steht. So gerieth Heraklit
mit den astronomischen Vorstellungen seiner Zeit nothwendig in
Streit; so gelangte er zu seinen eigenen, paradoxen astronomischen
Behauptungen, die nur als ein Rückschritt gedeutet werden können.

An dem Gegensatz gegen die Formeln des Heraklit hat wahr-
scheinlich Parmenides den Gedanken des Xenophanes zu voller
metaphysischer Klarheit entwickelt. Er arbeitet, wie Heraklit, sich den
Gehalt der Weltvorstellung tiefer bewußt zu machen. Auch er will
nicht mehr in erster Linie sich im Weltall orientiren oder den
thatsächlichen Zusammenhang der Bewegungen seiner großen
Massen feststellen. Wol war Parmenides der erste, der die
große Entdeckung von der Kugelgestalt der Erde als Schriftsteller
vertrat, wenn er auch nicht als der Entdecker selber bezeichnet
werden kann; denn es ist nicht ausgeschlossen, daß er diese in
der Astronomie epochemachende Einsicht in seiner unteritalischen
Heimath schon bei den Pythagoreern vorfand. Aber der Anfang
seines Lehrgedichts zeigt, daß eine metaphysische Besinnung über
die allgemeinsten Eigenschaften des Weltzusammenhangs auch
ihm als die große Aufgabe seines Lebens erschien. Derselbe
Anfang macht zugleich sichtbar, daß dieser Weltzusammenhang
für ihn allen religiösen Tiefsinn des mythischen Zeitalters in
sich schloß, ganz wie dies auch bei Heraklit der Fall war.
Aller Glanz der mythischen Welt, der Sitz der Gottheiten und

Dilthey, Einleitung. 13

Parmenides.
Gewalt anthun, und ſeine Schule, die Geſellſchaft der „Fließenden“,
verfiel naturgemäß dem Skepticismus. Denn beſteht nur der
Fluß der Dinge d. h. der Umſatz eines Zuſtandes der Materie
in den andern, fällt ſonach die Konſtanz nur in das Geſetz dieſes
Umſatzes: alsdann kann ein Prinzip, welches Träger dieſer Um-
ſatzbewegung wäre, nicht unterſchieden werden. Wenn alſo Hera-
klit auch nur ſymboliſch das Feuer als ein ſolches Prinzip be-
zeichnete, ſo verfiel ſein Syſtem damit dem inneren Widerſpruch.
Auch wurden ferner die regelmäßigen und konſtanten Kreisbe-
wegungen der Geſtirne einer Erklärung aus dem Prinzip der
Umwandlung unterworfen, und hierbei mußte ſich zeigen, daß die
ſtätige, unveränderliche Urſache, welche ſie fordern, mit der
Rhythmik der Umſätze in Widerſpruch ſteht. So gerieth Heraklit
mit den aſtronomiſchen Vorſtellungen ſeiner Zeit nothwendig in
Streit; ſo gelangte er zu ſeinen eigenen, paradoxen aſtronomiſchen
Behauptungen, die nur als ein Rückſchritt gedeutet werden können.

An dem Gegenſatz gegen die Formeln des Heraklit hat wahr-
ſcheinlich Parmenides den Gedanken des Xenophanes zu voller
metaphyſiſcher Klarheit entwickelt. Er arbeitet, wie Heraklit, ſich den
Gehalt der Weltvorſtellung tiefer bewußt zu machen. Auch er will
nicht mehr in erſter Linie ſich im Weltall orientiren oder den
thatſächlichen Zuſammenhang der Bewegungen ſeiner großen
Maſſen feſtſtellen. Wol war Parmenides der erſte, der die
große Entdeckung von der Kugelgeſtalt der Erde als Schriftſteller
vertrat, wenn er auch nicht als der Entdecker ſelber bezeichnet
werden kann; denn es iſt nicht ausgeſchloſſen, daß er dieſe in
der Aſtronomie epochemachende Einſicht in ſeiner unteritaliſchen
Heimath ſchon bei den Pythagoreern vorfand. Aber der Anfang
ſeines Lehrgedichts zeigt, daß eine metaphyſiſche Beſinnung über
die allgemeinſten Eigenſchaften des Weltzuſammenhangs auch
ihm als die große Aufgabe ſeines Lebens erſchien. Derſelbe
Anfang macht zugleich ſichtbar, daß dieſer Weltzuſammenhang
für ihn allen religiöſen Tiefſinn des mythiſchen Zeitalters in
ſich ſchloß, ganz wie dies auch bei Heraklit der Fall war.
Aller Glanz der mythiſchen Welt, der Sitz der Gottheiten und

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[193/0216] Parmenides. Gewalt anthun, und ſeine Schule, die Geſellſchaft der „Fließenden“, verfiel naturgemäß dem Skepticismus. Denn beſteht nur der Fluß der Dinge d. h. der Umſatz eines Zuſtandes der Materie in den andern, fällt ſonach die Konſtanz nur in das Geſetz dieſes Umſatzes: alsdann kann ein Prinzip, welches Träger dieſer Um- ſatzbewegung wäre, nicht unterſchieden werden. Wenn alſo Hera- klit auch nur ſymboliſch das Feuer als ein ſolches Prinzip be- zeichnete, ſo verfiel ſein Syſtem damit dem inneren Widerſpruch. Auch wurden ferner die regelmäßigen und konſtanten Kreisbe- wegungen der Geſtirne einer Erklärung aus dem Prinzip der Umwandlung unterworfen, und hierbei mußte ſich zeigen, daß die ſtätige, unveränderliche Urſache, welche ſie fordern, mit der Rhythmik der Umſätze in Widerſpruch ſteht. So gerieth Heraklit mit den aſtronomiſchen Vorſtellungen ſeiner Zeit nothwendig in Streit; ſo gelangte er zu ſeinen eigenen, paradoxen aſtronomiſchen Behauptungen, die nur als ein Rückſchritt gedeutet werden können. An dem Gegenſatz gegen die Formeln des Heraklit hat wahr- ſcheinlich Parmenides den Gedanken des Xenophanes zu voller metaphyſiſcher Klarheit entwickelt. Er arbeitet, wie Heraklit, ſich den Gehalt der Weltvorſtellung tiefer bewußt zu machen. Auch er will nicht mehr in erſter Linie ſich im Weltall orientiren oder den thatſächlichen Zuſammenhang der Bewegungen ſeiner großen Maſſen feſtſtellen. Wol war Parmenides der erſte, der die große Entdeckung von der Kugelgeſtalt der Erde als Schriftſteller vertrat, wenn er auch nicht als der Entdecker ſelber bezeichnet werden kann; denn es iſt nicht ausgeſchloſſen, daß er dieſe in der Aſtronomie epochemachende Einſicht in ſeiner unteritaliſchen Heimath ſchon bei den Pythagoreern vorfand. Aber der Anfang ſeines Lehrgedichts zeigt, daß eine metaphyſiſche Beſinnung über die allgemeinſten Eigenſchaften des Weltzuſammenhangs auch ihm als die große Aufgabe ſeines Lebens erſchien. Derſelbe Anfang macht zugleich ſichtbar, daß dieſer Weltzuſammenhang für ihn allen religiöſen Tiefſinn des mythiſchen Zeitalters in ſich ſchloß, ganz wie dies auch bei Heraklit der Fall war. Aller Glanz der mythiſchen Welt, der Sitz der Gottheiten und Dilthey, Einleitung. 13

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/216>, abgerufen am 24.11.2024.