Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
durchschaut das Anthropomorphistische im Götterglauben und dessen
Unhaltbarkeit.

Die strengere Entwicklung dieses Prinzips des All-Einen
scheint dadurch gefördert worden zu sein, daß Heraklit aus der
Naturanschauung der jonischen Physiker, abschließend, als die Grund-
lage derselben die Formel von der allgemeinen Wandelbarkeit ab-
leitete. -- Das Bewußtsein des Unterschieds des ihm aufgehenden
metaphysischen Bewußtseins von aller bisherigen Forschung er-
füllt ihn mit herbem Stolz und vernichtender Kritik. Dieses
metaphysische Bewußtsein bezieht sich nach der tiefen Einsicht des
Heraklit gerade auf das, was den Menschen beständig umgiebt,
was er beständig hört und sieht: während der gewöhnliche Zu-
stand des Menschen ist, da und doch nicht dabei zu sein, faßt
diese metaphysische Besonnenheit eben das überall Wiederkehrende
in wachem Bewußtsein auf und spricht es aus. Und so tritt sie
wie zu dem vulgären Dahinleben, das dem Schlaf gleicht, auch
zu der Empirie in Gegensatz, welche sich in einzelner Kunde und
Orientirung über den Kosmos ausbreitet, und die doch den Sinn
nicht belehrt, zu der falschen Kunst, deren Typen ihm Pythagoras,
Xenophanes, Hekatäos unter seinen Zeitgenossen und Vorgängern
sind. -- Diesem metaphysischen Bewußtsein geht nun das Welt-
gesetz der Abwandlung auf, welches an jedem Punkte des All
gleichmäßig wirksam ist. Das sich abwandelnde All-Eine ist nicht
nur als dasselbe in den Gegensätzen gegenwärtig, in jeder ein-
zelnen Erscheinung selber ist schon ihr Gegensatz enthalten, in
unsrem Leben ist der Tod, in unsrem Tod das Leben. -- In diesen
Gedanken, die alles Sein auflösen, lag dann der Grund für die
Abwendung Heraklits von der positiven Wissenschaft der Zeit.
Heraklit hat auch seine Physik dem Grundgedanken der Abwand-
lung unterworfen, und er hat selbst die Sonne in seine Rhythmik
des Umsatzes hineingezogen: täglich sollte sie neu entstehen.

Dieser Gedanke, welchem gemäß Konstanz nur in dem Gesetz
der Veränderungen besteht, enthielt zweifellos einen wichtigen An-
satzpunkt wahrer Einsichten; aber in der damaligen Lage der
Wissenschaften mußte Heraklit dem Gedanken wie den Thatsachen

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
durchſchaut das Anthropomorphiſtiſche im Götterglauben und deſſen
Unhaltbarkeit.

Die ſtrengere Entwicklung dieſes Prinzips des All-Einen
ſcheint dadurch gefördert worden zu ſein, daß Heraklit aus der
Naturanſchauung der joniſchen Phyſiker, abſchließend, als die Grund-
lage derſelben die Formel von der allgemeinen Wandelbarkeit ab-
leitete. — Das Bewußtſein des Unterſchieds des ihm aufgehenden
metaphyſiſchen Bewußtſeins von aller bisherigen Forſchung er-
füllt ihn mit herbem Stolz und vernichtender Kritik. Dieſes
metaphyſiſche Bewußtſein bezieht ſich nach der tiefen Einſicht des
Heraklit gerade auf das, was den Menſchen beſtändig umgiebt,
was er beſtändig hört und ſieht: während der gewöhnliche Zu-
ſtand des Menſchen iſt, da und doch nicht dabei zu ſein, faßt
dieſe metaphyſiſche Beſonnenheit eben das überall Wiederkehrende
in wachem Bewußtſein auf und ſpricht es aus. Und ſo tritt ſie
wie zu dem vulgären Dahinleben, das dem Schlaf gleicht, auch
zu der Empirie in Gegenſatz, welche ſich in einzelner Kunde und
Orientirung über den Kosmos ausbreitet, und die doch den Sinn
nicht belehrt, zu der falſchen Kunſt, deren Typen ihm Pythagoras,
Xenophanes, Hekatäos unter ſeinen Zeitgenoſſen und Vorgängern
ſind. — Dieſem metaphyſiſchen Bewußtſein geht nun das Welt-
geſetz der Abwandlung auf, welches an jedem Punkte des All
gleichmäßig wirkſam iſt. Das ſich abwandelnde All-Eine iſt nicht
nur als daſſelbe in den Gegenſätzen gegenwärtig, in jeder ein-
zelnen Erſcheinung ſelber iſt ſchon ihr Gegenſatz enthalten, in
unſrem Leben iſt der Tod, in unſrem Tod das Leben. — In dieſen
Gedanken, die alles Sein auflöſen, lag dann der Grund für die
Abwendung Heraklits von der poſitiven Wiſſenſchaft der Zeit.
Heraklit hat auch ſeine Phyſik dem Grundgedanken der Abwand-
lung unterworfen, und er hat ſelbſt die Sonne in ſeine Rhythmik
des Umſatzes hineingezogen: täglich ſollte ſie neu entſtehen.

Dieſer Gedanke, welchem gemäß Konſtanz nur in dem Geſetz
der Veränderungen beſteht, enthielt zweifellos einen wichtigen An-
ſatzpunkt wahrer Einſichten; aber in der damaligen Lage der
Wiſſenſchaften mußte Heraklit dem Gedanken wie den Thatſachen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0215" n="192"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Zweiter Ab&#x017F;chnitt.</fw><lb/>
durch&#x017F;chaut das Anthropomorphi&#x017F;ti&#x017F;che im Götterglauben und de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Unhaltbarkeit.</p><lb/>
            <p>Die &#x017F;trengere Entwicklung die&#x017F;es Prinzips des All-Einen<lb/>
&#x017F;cheint dadurch gefördert worden zu &#x017F;ein, daß <hi rendition="#g">Heraklit</hi> aus der<lb/>
Naturan&#x017F;chauung der joni&#x017F;chen Phy&#x017F;iker, ab&#x017F;chließend, als die Grund-<lb/>
lage der&#x017F;elben die Formel von der allgemeinen Wandelbarkeit ab-<lb/>
leitete. &#x2014; Das Bewußt&#x017F;ein des Unter&#x017F;chieds des ihm aufgehenden<lb/>
metaphy&#x017F;i&#x017F;chen Bewußt&#x017F;eins von aller bisherigen For&#x017F;chung er-<lb/>
füllt ihn mit herbem Stolz und vernichtender Kritik. Die&#x017F;es<lb/>
metaphy&#x017F;i&#x017F;che Bewußt&#x017F;ein bezieht &#x017F;ich nach der tiefen Ein&#x017F;icht des<lb/>
Heraklit gerade auf das, was den Men&#x017F;chen be&#x017F;tändig umgiebt,<lb/>
was er be&#x017F;tändig hört und &#x017F;ieht: während der gewöhnliche Zu-<lb/>
&#x017F;tand des Men&#x017F;chen i&#x017F;t, da und doch nicht dabei zu &#x017F;ein, faßt<lb/>
die&#x017F;e metaphy&#x017F;i&#x017F;che Be&#x017F;onnenheit eben das überall Wiederkehrende<lb/>
in wachem Bewußt&#x017F;ein auf und &#x017F;pricht es aus. Und &#x017F;o tritt &#x017F;ie<lb/>
wie zu dem vulgären Dahinleben, das dem Schlaf gleicht, auch<lb/>
zu der Empirie in Gegen&#x017F;atz, welche &#x017F;ich in einzelner Kunde und<lb/>
Orientirung über den Kosmos ausbreitet, und die doch den Sinn<lb/>
nicht belehrt, zu der fal&#x017F;chen Kun&#x017F;t, deren Typen ihm Pythagoras,<lb/>
Xenophanes, Hekatäos unter &#x017F;einen Zeitgeno&#x017F;&#x017F;en und Vorgängern<lb/>
&#x017F;ind. &#x2014; Die&#x017F;em metaphy&#x017F;i&#x017F;chen Bewußt&#x017F;ein geht nun das Welt-<lb/>
ge&#x017F;etz der Abwandlung auf, welches an jedem Punkte des All<lb/>
gleichmäßig wirk&#x017F;am i&#x017F;t. Das &#x017F;ich abwandelnde All-Eine i&#x017F;t nicht<lb/>
nur als da&#x017F;&#x017F;elbe in den Gegen&#x017F;ätzen gegenwärtig, in jeder ein-<lb/>
zelnen Er&#x017F;cheinung &#x017F;elber i&#x017F;t &#x017F;chon ihr Gegen&#x017F;atz enthalten, in<lb/>
un&#x017F;rem Leben i&#x017F;t der Tod, in un&#x017F;rem Tod das Leben. &#x2014; In die&#x017F;en<lb/>
Gedanken, die alles Sein auflö&#x017F;en, lag dann der Grund für die<lb/>
Abwendung Heraklits von der po&#x017F;itiven Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft der Zeit.<lb/>
Heraklit hat auch &#x017F;eine Phy&#x017F;ik dem Grundgedanken der Abwand-<lb/>
lung unterworfen, und er hat &#x017F;elb&#x017F;t die Sonne in &#x017F;eine Rhythmik<lb/>
des Um&#x017F;atzes hineingezogen: täglich &#x017F;ollte &#x017F;ie neu ent&#x017F;tehen.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;er Gedanke, welchem gemäß Kon&#x017F;tanz nur in dem Ge&#x017F;etz<lb/>
der Veränderungen be&#x017F;teht, enthielt zweifellos einen wichtigen An-<lb/>
&#x017F;atzpunkt wahrer Ein&#x017F;ichten; aber in der damaligen Lage der<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften mußte Heraklit dem Gedanken wie den That&#x017F;achen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[192/0215] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. durchſchaut das Anthropomorphiſtiſche im Götterglauben und deſſen Unhaltbarkeit. Die ſtrengere Entwicklung dieſes Prinzips des All-Einen ſcheint dadurch gefördert worden zu ſein, daß Heraklit aus der Naturanſchauung der joniſchen Phyſiker, abſchließend, als die Grund- lage derſelben die Formel von der allgemeinen Wandelbarkeit ab- leitete. — Das Bewußtſein des Unterſchieds des ihm aufgehenden metaphyſiſchen Bewußtſeins von aller bisherigen Forſchung er- füllt ihn mit herbem Stolz und vernichtender Kritik. Dieſes metaphyſiſche Bewußtſein bezieht ſich nach der tiefen Einſicht des Heraklit gerade auf das, was den Menſchen beſtändig umgiebt, was er beſtändig hört und ſieht: während der gewöhnliche Zu- ſtand des Menſchen iſt, da und doch nicht dabei zu ſein, faßt dieſe metaphyſiſche Beſonnenheit eben das überall Wiederkehrende in wachem Bewußtſein auf und ſpricht es aus. Und ſo tritt ſie wie zu dem vulgären Dahinleben, das dem Schlaf gleicht, auch zu der Empirie in Gegenſatz, welche ſich in einzelner Kunde und Orientirung über den Kosmos ausbreitet, und die doch den Sinn nicht belehrt, zu der falſchen Kunſt, deren Typen ihm Pythagoras, Xenophanes, Hekatäos unter ſeinen Zeitgenoſſen und Vorgängern ſind. — Dieſem metaphyſiſchen Bewußtſein geht nun das Welt- geſetz der Abwandlung auf, welches an jedem Punkte des All gleichmäßig wirkſam iſt. Das ſich abwandelnde All-Eine iſt nicht nur als daſſelbe in den Gegenſätzen gegenwärtig, in jeder ein- zelnen Erſcheinung ſelber iſt ſchon ihr Gegenſatz enthalten, in unſrem Leben iſt der Tod, in unſrem Tod das Leben. — In dieſen Gedanken, die alles Sein auflöſen, lag dann der Grund für die Abwendung Heraklits von der poſitiven Wiſſenſchaft der Zeit. Heraklit hat auch ſeine Phyſik dem Grundgedanken der Abwand- lung unterworfen, und er hat ſelbſt die Sonne in ſeine Rhythmik des Umſatzes hineingezogen: täglich ſollte ſie neu entſtehen. Dieſer Gedanke, welchem gemäß Konſtanz nur in dem Geſetz der Veränderungen beſteht, enthielt zweifellos einen wichtigen An- ſatzpunkt wahrer Einſichten; aber in der damaligen Lage der Wiſſenſchaften mußte Heraklit dem Gedanken wie den Thatſachen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/215
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/215>, abgerufen am 24.11.2024.