durchschaut das Anthropomorphistische im Götterglauben und dessen Unhaltbarkeit.
Die strengere Entwicklung dieses Prinzips des All-Einen scheint dadurch gefördert worden zu sein, daß Heraklit aus der Naturanschauung der jonischen Physiker, abschließend, als die Grund- lage derselben die Formel von der allgemeinen Wandelbarkeit ab- leitete. -- Das Bewußtsein des Unterschieds des ihm aufgehenden metaphysischen Bewußtseins von aller bisherigen Forschung er- füllt ihn mit herbem Stolz und vernichtender Kritik. Dieses metaphysische Bewußtsein bezieht sich nach der tiefen Einsicht des Heraklit gerade auf das, was den Menschen beständig umgiebt, was er beständig hört und sieht: während der gewöhnliche Zu- stand des Menschen ist, da und doch nicht dabei zu sein, faßt diese metaphysische Besonnenheit eben das überall Wiederkehrende in wachem Bewußtsein auf und spricht es aus. Und so tritt sie wie zu dem vulgären Dahinleben, das dem Schlaf gleicht, auch zu der Empirie in Gegensatz, welche sich in einzelner Kunde und Orientirung über den Kosmos ausbreitet, und die doch den Sinn nicht belehrt, zu der falschen Kunst, deren Typen ihm Pythagoras, Xenophanes, Hekatäos unter seinen Zeitgenossen und Vorgängern sind. -- Diesem metaphysischen Bewußtsein geht nun das Welt- gesetz der Abwandlung auf, welches an jedem Punkte des All gleichmäßig wirksam ist. Das sich abwandelnde All-Eine ist nicht nur als dasselbe in den Gegensätzen gegenwärtig, in jeder ein- zelnen Erscheinung selber ist schon ihr Gegensatz enthalten, in unsrem Leben ist der Tod, in unsrem Tod das Leben. -- In diesen Gedanken, die alles Sein auflösen, lag dann der Grund für die Abwendung Heraklits von der positiven Wissenschaft der Zeit. Heraklit hat auch seine Physik dem Grundgedanken der Abwand- lung unterworfen, und er hat selbst die Sonne in seine Rhythmik des Umsatzes hineingezogen: täglich sollte sie neu entstehen.
Dieser Gedanke, welchem gemäß Konstanz nur in dem Gesetz der Veränderungen besteht, enthielt zweifellos einen wichtigen An- satzpunkt wahrer Einsichten; aber in der damaligen Lage der Wissenschaften mußte Heraklit dem Gedanken wie den Thatsachen
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
durchſchaut das Anthropomorphiſtiſche im Götterglauben und deſſen Unhaltbarkeit.
Die ſtrengere Entwicklung dieſes Prinzips des All-Einen ſcheint dadurch gefördert worden zu ſein, daß Heraklit aus der Naturanſchauung der joniſchen Phyſiker, abſchließend, als die Grund- lage derſelben die Formel von der allgemeinen Wandelbarkeit ab- leitete. — Das Bewußtſein des Unterſchieds des ihm aufgehenden metaphyſiſchen Bewußtſeins von aller bisherigen Forſchung er- füllt ihn mit herbem Stolz und vernichtender Kritik. Dieſes metaphyſiſche Bewußtſein bezieht ſich nach der tiefen Einſicht des Heraklit gerade auf das, was den Menſchen beſtändig umgiebt, was er beſtändig hört und ſieht: während der gewöhnliche Zu- ſtand des Menſchen iſt, da und doch nicht dabei zu ſein, faßt dieſe metaphyſiſche Beſonnenheit eben das überall Wiederkehrende in wachem Bewußtſein auf und ſpricht es aus. Und ſo tritt ſie wie zu dem vulgären Dahinleben, das dem Schlaf gleicht, auch zu der Empirie in Gegenſatz, welche ſich in einzelner Kunde und Orientirung über den Kosmos ausbreitet, und die doch den Sinn nicht belehrt, zu der falſchen Kunſt, deren Typen ihm Pythagoras, Xenophanes, Hekatäos unter ſeinen Zeitgenoſſen und Vorgängern ſind. — Dieſem metaphyſiſchen Bewußtſein geht nun das Welt- geſetz der Abwandlung auf, welches an jedem Punkte des All gleichmäßig wirkſam iſt. Das ſich abwandelnde All-Eine iſt nicht nur als daſſelbe in den Gegenſätzen gegenwärtig, in jeder ein- zelnen Erſcheinung ſelber iſt ſchon ihr Gegenſatz enthalten, in unſrem Leben iſt der Tod, in unſrem Tod das Leben. — In dieſen Gedanken, die alles Sein auflöſen, lag dann der Grund für die Abwendung Heraklits von der poſitiven Wiſſenſchaft der Zeit. Heraklit hat auch ſeine Phyſik dem Grundgedanken der Abwand- lung unterworfen, und er hat ſelbſt die Sonne in ſeine Rhythmik des Umſatzes hineingezogen: täglich ſollte ſie neu entſtehen.
Dieſer Gedanke, welchem gemäß Konſtanz nur in dem Geſetz der Veränderungen beſteht, enthielt zweifellos einen wichtigen An- ſatzpunkt wahrer Einſichten; aber in der damaligen Lage der Wiſſenſchaften mußte Heraklit dem Gedanken wie den Thatſachen
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Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
durchſchaut das Anthropomorphiſtiſche im Götterglauben und deſſen
Unhaltbarkeit.
Die ſtrengere Entwicklung dieſes Prinzips des All-Einen
ſcheint dadurch gefördert worden zu ſein, daß Heraklit aus der
Naturanſchauung der joniſchen Phyſiker, abſchließend, als die Grund-
lage derſelben die Formel von der allgemeinen Wandelbarkeit ab-
leitete. — Das Bewußtſein des Unterſchieds des ihm aufgehenden
metaphyſiſchen Bewußtſeins von aller bisherigen Forſchung er-
füllt ihn mit herbem Stolz und vernichtender Kritik. Dieſes
metaphyſiſche Bewußtſein bezieht ſich nach der tiefen Einſicht des
Heraklit gerade auf das, was den Menſchen beſtändig umgiebt,
was er beſtändig hört und ſieht: während der gewöhnliche Zu-
ſtand des Menſchen iſt, da und doch nicht dabei zu ſein, faßt
dieſe metaphyſiſche Beſonnenheit eben das überall Wiederkehrende
in wachem Bewußtſein auf und ſpricht es aus. Und ſo tritt ſie
wie zu dem vulgären Dahinleben, das dem Schlaf gleicht, auch
zu der Empirie in Gegenſatz, welche ſich in einzelner Kunde und
Orientirung über den Kosmos ausbreitet, und die doch den Sinn
nicht belehrt, zu der falſchen Kunſt, deren Typen ihm Pythagoras,
Xenophanes, Hekatäos unter ſeinen Zeitgenoſſen und Vorgängern
ſind. — Dieſem metaphyſiſchen Bewußtſein geht nun das Welt-
geſetz der Abwandlung auf, welches an jedem Punkte des All
gleichmäßig wirkſam iſt. Das ſich abwandelnde All-Eine iſt nicht
nur als daſſelbe in den Gegenſätzen gegenwärtig, in jeder ein-
zelnen Erſcheinung ſelber iſt ſchon ihr Gegenſatz enthalten, in
unſrem Leben iſt der Tod, in unſrem Tod das Leben. — In dieſen
Gedanken, die alles Sein auflöſen, lag dann der Grund für die
Abwendung Heraklits von der poſitiven Wiſſenſchaft der Zeit.
Heraklit hat auch ſeine Phyſik dem Grundgedanken der Abwand-
lung unterworfen, und er hat ſelbſt die Sonne in ſeine Rhythmik
des Umſatzes hineingezogen: täglich ſollte ſie neu entſtehen.
Dieſer Gedanke, welchem gemäß Konſtanz nur in dem Geſetz
der Veränderungen beſteht, enthielt zweifellos einen wichtigen An-
ſatzpunkt wahrer Einſichten; aber in der damaligen Lage der
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/215>, abgerufen am 24.11.2024.
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