Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Aufgabe der folgenden Grundlegung.
niß des gesellschaftlichen Lebens. Und da wir den Leser mit den
Einzelwissenschaften beschäftigt oder in der mit ihnen verknüpften
Technik des Berufslebens thätig vorfinden, so mußte, im Gegensatz
gegen diese Vereinzelung, die Nothwendigkeit einer grundlegenden
Wissenschaft nachgewiesen werden, welche die Beziehungen der Einzel-
wissenschaften zu dem fortschreitenden Erkenntnißvorgang entwickelt;
in eine solche Grundlegung führen alle Geisteswissenschaften zurück.

Zu dieser Grundlegung selber wenden wir uns nunmehr.
Sie entnimmt für ihren Aufbau aus dem Bisherigen nur den Be-
weis der Nothwendigkeit einer die Geisteswissenschaften begründen-
den allgemeinen Wissenschaft. Dagegen muß sie für die im ersten
Buch entwickelte Anschauung der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirk-
lichkeit und des Vorgangs, in welchem deren Erkenntniß stattfindet,
soweit diese Anschauung mehr als eine Zusammenordnung von
Thatsachen ist, nun erst die strenge Begründung darlegen.

Wir finden nun in der Literatur der Geisteswissenschaften
zwei unterschiedene Gestalten einer solchen Grundlegung.
Während die Begründung der Geisteswissenschaften auf die Selbst-
besinnung
, somit auf Erkenntnißtheorie und Psychologie bisher in
einer geringen Anzahl von Arbeiten versucht worden ist, welche erst
durch die kritische Philosophie des 18. Jahrhunderts hervorgerufen
wurden, besteht seit mehr als zweitausend Jahren ihre Begründung
auf Metaphysik. Denn seit einer so langen Zeit wurde die
Erkenntniß der geistigen Welt auf die Erkenntniß Gottes als
ihres Urhebers und auf die Wissenschaft von dem allgemeinen
inneren Zusammenhang der Wirklichkeit als von dem Grunde der
Natur sowie des Geistes zurückgeführt. Insbesondere bis in das
15. Jahrhundert hat die Metaphysik (den Zeitraum von der Be-
gründung der alexandrinischen Wissenschaft bis zum Aufbau der
christlichen Metaphysik ausgenommen) über die einzelnen Wissen-
schaften gleich einer Königin geherrscht. Ordnet dieselbe sich doch,
ihrem Begriff nach nothwendig, alle einzelnen Wissenschaften unter,
wenn sie überhaupt anerkannt wird. Diese Anerkennung aber
war so lange selbstverständlich, als der Geist den inneren und all-
gemeinen Zusammenhang der Wirklichkeit zu erkennen gewiß war.

Aufgabe der folgenden Grundlegung.
niß des geſellſchaftlichen Lebens. Und da wir den Leſer mit den
Einzelwiſſenſchaften beſchäftigt oder in der mit ihnen verknüpften
Technik des Berufslebens thätig vorfinden, ſo mußte, im Gegenſatz
gegen dieſe Vereinzelung, die Nothwendigkeit einer grundlegenden
Wiſſenſchaft nachgewieſen werden, welche die Beziehungen der Einzel-
wiſſenſchaften zu dem fortſchreitenden Erkenntnißvorgang entwickelt;
in eine ſolche Grundlegung führen alle Geiſteswiſſenſchaften zurück.

Zu dieſer Grundlegung ſelber wenden wir uns nunmehr.
Sie entnimmt für ihren Aufbau aus dem Bisherigen nur den Be-
weis der Nothwendigkeit einer die Geiſteswiſſenſchaften begründen-
den allgemeinen Wiſſenſchaft. Dagegen muß ſie für die im erſten
Buch entwickelte Anſchauung der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirk-
lichkeit und des Vorgangs, in welchem deren Erkenntniß ſtattfindet,
ſoweit dieſe Anſchauung mehr als eine Zuſammenordnung von
Thatſachen iſt, nun erſt die ſtrenge Begründung darlegen.

Wir finden nun in der Literatur der Geiſteswiſſenſchaften
zwei unterſchiedene Geſtalten einer ſolchen Grundlegung.
Während die Begründung der Geiſteswiſſenſchaften auf die Selbſt-
beſinnung
, ſomit auf Erkenntnißtheorie und Pſychologie bisher in
einer geringen Anzahl von Arbeiten verſucht worden iſt, welche erſt
durch die kritiſche Philoſophie des 18. Jahrhunderts hervorgerufen
wurden, beſteht ſeit mehr als zweitauſend Jahren ihre Begründung
auf Metaphyſik. Denn ſeit einer ſo langen Zeit wurde die
Erkenntniß der geiſtigen Welt auf die Erkenntniß Gottes als
ihres Urhebers und auf die Wiſſenſchaft von dem allgemeinen
inneren Zuſammenhang der Wirklichkeit als von dem Grunde der
Natur ſowie des Geiſtes zurückgeführt. Insbeſondere bis in das
15. Jahrhundert hat die Metaphyſik (den Zeitraum von der Be-
gründung der alexandriniſchen Wiſſenſchaft bis zum Aufbau der
chriſtlichen Metaphyſik ausgenommen) über die einzelnen Wiſſen-
ſchaften gleich einer Königin geherrſcht. Ordnet dieſelbe ſich doch,
ihrem Begriff nach nothwendig, alle einzelnen Wiſſenſchaften unter,
wenn ſie überhaupt anerkannt wird. Dieſe Anerkennung aber
war ſo lange ſelbſtverſtändlich, als der Geiſt den inneren und all-
gemeinen Zuſammenhang der Wirklichkeit zu erkennen gewiß war.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0178" n="155"/><fw place="top" type="header">Aufgabe der folgenden Grundlegung.</fw><lb/>
niß des ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Lebens. Und da wir den Le&#x017F;er mit den<lb/>
Einzelwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften be&#x017F;chäftigt oder in der mit ihnen verknüpften<lb/>
Technik des Berufslebens thätig vorfinden, &#x017F;o mußte, im Gegen&#x017F;atz<lb/>
gegen die&#x017F;e Vereinzelung, die Nothwendigkeit einer grundlegenden<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft nachgewie&#x017F;en werden, welche die Beziehungen der Einzel-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften zu dem fort&#x017F;chreitenden Erkenntnißvorgang entwickelt;<lb/>
in eine &#x017F;olche Grundlegung führen alle Gei&#x017F;teswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften zurück.</p><lb/>
            <p>Zu die&#x017F;er Grundlegung &#x017F;elber wenden wir uns nunmehr.<lb/>
Sie entnimmt für ihren Aufbau aus dem Bisherigen nur den Be-<lb/>
weis der Nothwendigkeit einer die Gei&#x017F;teswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften begründen-<lb/>
den allgemeinen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft. Dagegen muß &#x017F;ie für die im er&#x017F;ten<lb/>
Buch entwickelte An&#x017F;chauung der ge&#x017F;chichtlich-ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Wirk-<lb/>
lichkeit und des Vorgangs, in welchem deren Erkenntniß &#x017F;tattfindet,<lb/>
&#x017F;oweit die&#x017F;e An&#x017F;chauung mehr als eine Zu&#x017F;ammenordnung von<lb/>
That&#x017F;achen i&#x017F;t, nun er&#x017F;t die &#x017F;trenge Begründung darlegen.</p><lb/>
            <p>Wir finden nun in der Literatur der Gei&#x017F;teswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften<lb/><hi rendition="#g">zwei</hi> unter&#x017F;chiedene <hi rendition="#g">Ge&#x017F;talten einer &#x017F;olchen Grundlegung</hi>.<lb/>
Während die Begründung der Gei&#x017F;teswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften auf die <hi rendition="#g">Selb&#x017F;t-<lb/>
be&#x017F;innung</hi>, &#x017F;omit auf Erkenntnißtheorie und P&#x017F;ychologie bisher in<lb/>
einer geringen Anzahl von Arbeiten ver&#x017F;ucht worden i&#x017F;t, welche er&#x017F;t<lb/>
durch die kriti&#x017F;che Philo&#x017F;ophie des 18. Jahrhunderts hervorgerufen<lb/>
wurden, be&#x017F;teht &#x017F;eit mehr als zweitau&#x017F;end Jahren ihre Begründung<lb/>
auf <hi rendition="#g">Metaphy&#x017F;ik</hi>. Denn &#x017F;eit einer &#x017F;o langen Zeit wurde die<lb/>
Erkenntniß der gei&#x017F;tigen Welt auf die Erkenntniß Gottes als<lb/>
ihres Urhebers und auf die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft von dem allgemeinen<lb/>
inneren Zu&#x017F;ammenhang der Wirklichkeit als von dem Grunde der<lb/>
Natur &#x017F;owie des Gei&#x017F;tes zurückgeführt. Insbe&#x017F;ondere bis in das<lb/>
15. Jahrhundert hat die Metaphy&#x017F;ik (den Zeitraum von der Be-<lb/>
gründung der alexandrini&#x017F;chen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft bis zum Aufbau der<lb/>
chri&#x017F;tlichen Metaphy&#x017F;ik ausgenommen) über die einzelnen Wi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaften gleich einer Königin geherr&#x017F;cht. Ordnet die&#x017F;elbe &#x017F;ich doch,<lb/>
ihrem Begriff nach nothwendig, alle einzelnen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften unter,<lb/>
wenn &#x017F;ie überhaupt anerkannt wird. Die&#x017F;e Anerkennung aber<lb/>
war &#x017F;o lange &#x017F;elb&#x017F;tver&#x017F;tändlich, als der Gei&#x017F;t den inneren und all-<lb/>
gemeinen Zu&#x017F;ammenhang der Wirklichkeit zu erkennen gewiß war.<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[155/0178] Aufgabe der folgenden Grundlegung. niß des geſellſchaftlichen Lebens. Und da wir den Leſer mit den Einzelwiſſenſchaften beſchäftigt oder in der mit ihnen verknüpften Technik des Berufslebens thätig vorfinden, ſo mußte, im Gegenſatz gegen dieſe Vereinzelung, die Nothwendigkeit einer grundlegenden Wiſſenſchaft nachgewieſen werden, welche die Beziehungen der Einzel- wiſſenſchaften zu dem fortſchreitenden Erkenntnißvorgang entwickelt; in eine ſolche Grundlegung führen alle Geiſteswiſſenſchaften zurück. Zu dieſer Grundlegung ſelber wenden wir uns nunmehr. Sie entnimmt für ihren Aufbau aus dem Bisherigen nur den Be- weis der Nothwendigkeit einer die Geiſteswiſſenſchaften begründen- den allgemeinen Wiſſenſchaft. Dagegen muß ſie für die im erſten Buch entwickelte Anſchauung der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirk- lichkeit und des Vorgangs, in welchem deren Erkenntniß ſtattfindet, ſoweit dieſe Anſchauung mehr als eine Zuſammenordnung von Thatſachen iſt, nun erſt die ſtrenge Begründung darlegen. Wir finden nun in der Literatur der Geiſteswiſſenſchaften zwei unterſchiedene Geſtalten einer ſolchen Grundlegung. Während die Begründung der Geiſteswiſſenſchaften auf die Selbſt- beſinnung, ſomit auf Erkenntnißtheorie und Pſychologie bisher in einer geringen Anzahl von Arbeiten verſucht worden iſt, welche erſt durch die kritiſche Philoſophie des 18. Jahrhunderts hervorgerufen wurden, beſteht ſeit mehr als zweitauſend Jahren ihre Begründung auf Metaphyſik. Denn ſeit einer ſo langen Zeit wurde die Erkenntniß der geiſtigen Welt auf die Erkenntniß Gottes als ihres Urhebers und auf die Wiſſenſchaft von dem allgemeinen inneren Zuſammenhang der Wirklichkeit als von dem Grunde der Natur ſowie des Geiſtes zurückgeführt. Insbeſondere bis in das 15. Jahrhundert hat die Metaphyſik (den Zeitraum von der Be- gründung der alexandriniſchen Wiſſenſchaft bis zum Aufbau der chriſtlichen Metaphyſik ausgenommen) über die einzelnen Wiſſen- ſchaften gleich einer Königin geherrſcht. Ordnet dieſelbe ſich doch, ihrem Begriff nach nothwendig, alle einzelnen Wiſſenſchaften unter, wenn ſie überhaupt anerkannt wird. Dieſe Anerkennung aber war ſo lange ſelbſtverſtändlich, als der Geiſt den inneren und all- gemeinen Zuſammenhang der Wirklichkeit zu erkennen gewiß war.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/178
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/178>, abgerufen am 05.05.2024.