ein unersättliches Verlangen nach Realität, welches sich, nachdem es die Naturwissenschaften umgestaltet hat, nunmehr der geschicht- lich-gesellschaftlichen Welt bemächtigen will, um, wenn möglich, das Ganze der Welt zu umfassen und die Mittel zu gewinnen, in den Gang der menschlichen Gesellschaft einzugreifen.
Diese ganze, volle, unverstümmelte Erfahrung ist aber bisher noch niemals dem Philosophiren zu Grunde gelegt worden. Viel- mehr ist der Empirismus nicht minder abstrakt, als die Spekulation. Der Mensch, welchen einflußreiche empiristische Schulen aus Empfindungen und Vorstellungen, wie aus Atomen, zusammen- setzen, steht mit der inneren Erfahrung, aus deren Elementen doch die Vorstellung vom Menschen gewonnen ist, in Widerspruch: diese Maschine hätte nicht für Einen Tag die Fähigkeit sich in der Welt zu erhalten. Der Zusammenhang der Gesellschaft, welcher aus dieser empiristischen Auffassung gefolgert wird, ist nicht minder, als der, den die spekulativen Schulen aufgestellt haben, eine von abstrakten Elementen aus entworfene Konstruktion. Die wirkliche Gesellschaft ist weder ein Mechanismus noch, wie andere sie vor- nehmer vorstellen, ein Organismus. Nur zwei verschiedene Seiten desselben Standpunktes der Erfahrung sind die den strengen An- forderungen der Wissenschaft entsprechende Analysis der Wirklich- keit und das Anerkenntniß der über diese Analysis hinausreichenden Realität der Wirklichkeit. "Im Betrachten wie im Handeln", be- merkt Goethe, "ist das Zugängliche von dem Unzugänglichen zu unterscheiden; ohne dies läßt sich im Leben wie in der Wissen- schaft wenig leisten."
Im Gegensatz gegen den herrschenden Empirismus wie gegen die Spekulation mußte also zunächst die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit in ihrer vollen Realität sichtbar gemacht werden; auf diese Wirklichkeit beziehen sich alle folgenden Untersuchungen. Im Gegensatz gegen die Entwürfe einer den ganzen Zusammenhang dieser Wirklichkeit umspannenden Wissenschaft mußte das Ineinander- greifen der Leistungen der geschichtlich gewordenen, fruchtbaren Einzelwissenschaften gezeigt werden; in ihnen vollzieht sich der große Prozeß einer zwar relativen, aber fortschreitenden Erkennt-
Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
ein unerſättliches Verlangen nach Realität, welches ſich, nachdem es die Naturwiſſenſchaften umgeſtaltet hat, nunmehr der geſchicht- lich-geſellſchaftlichen Welt bemächtigen will, um, wenn möglich, das Ganze der Welt zu umfaſſen und die Mittel zu gewinnen, in den Gang der menſchlichen Geſellſchaft einzugreifen.
Dieſe ganze, volle, unverſtümmelte Erfahrung iſt aber bisher noch niemals dem Philoſophiren zu Grunde gelegt worden. Viel- mehr iſt der Empirismus nicht minder abſtrakt, als die Spekulation. Der Menſch, welchen einflußreiche empiriſtiſche Schulen aus Empfindungen und Vorſtellungen, wie aus Atomen, zuſammen- ſetzen, ſteht mit der inneren Erfahrung, aus deren Elementen doch die Vorſtellung vom Menſchen gewonnen iſt, in Widerſpruch: dieſe Maſchine hätte nicht für Einen Tag die Fähigkeit ſich in der Welt zu erhalten. Der Zuſammenhang der Geſellſchaft, welcher aus dieſer empiriſtiſchen Auffaſſung gefolgert wird, iſt nicht minder, als der, den die ſpekulativen Schulen aufgeſtellt haben, eine von abſtrakten Elementen aus entworfene Konſtruktion. Die wirkliche Geſellſchaft iſt weder ein Mechanismus noch, wie andere ſie vor- nehmer vorſtellen, ein Organismus. Nur zwei verſchiedene Seiten deſſelben Standpunktes der Erfahrung ſind die den ſtrengen An- forderungen der Wiſſenſchaft entſprechende Analyſis der Wirklich- keit und das Anerkenntniß der über dieſe Analyſis hinausreichenden Realität der Wirklichkeit. „Im Betrachten wie im Handeln“, be- merkt Goethe, „iſt das Zugängliche von dem Unzugänglichen zu unterſcheiden; ohne dies läßt ſich im Leben wie in der Wiſſen- ſchaft wenig leiſten.“
Im Gegenſatz gegen den herrſchenden Empirismus wie gegen die Spekulation mußte alſo zunächſt die geſchichtlich-geſellſchaftliche Wirklichkeit in ihrer vollen Realität ſichtbar gemacht werden; auf dieſe Wirklichkeit beziehen ſich alle folgenden Unterſuchungen. Im Gegenſatz gegen die Entwürfe einer den ganzen Zuſammenhang dieſer Wirklichkeit umſpannenden Wiſſenſchaft mußte das Ineinander- greifen der Leiſtungen der geſchichtlich gewordenen, fruchtbaren Einzelwiſſenſchaften gezeigt werden; in ihnen vollzieht ſich der große Prozeß einer zwar relativen, aber fortſchreitenden Erkennt-
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Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
ein unerſättliches Verlangen nach Realität, welches ſich, nachdem
es die Naturwiſſenſchaften umgeſtaltet hat, nunmehr der geſchicht-
lich-geſellſchaftlichen Welt bemächtigen will, um, wenn möglich,
das Ganze der Welt zu umfaſſen und die Mittel zu gewinnen, in
den Gang der menſchlichen Geſellſchaft einzugreifen.
Dieſe ganze, volle, unverſtümmelte Erfahrung iſt aber bisher
noch niemals dem Philoſophiren zu Grunde gelegt worden. Viel-
mehr iſt der Empirismus nicht minder abſtrakt, als die Spekulation.
Der Menſch, welchen einflußreiche empiriſtiſche Schulen aus
Empfindungen und Vorſtellungen, wie aus Atomen, zuſammen-
ſetzen, ſteht mit der inneren Erfahrung, aus deren Elementen doch
die Vorſtellung vom Menſchen gewonnen iſt, in Widerſpruch:
dieſe Maſchine hätte nicht für Einen Tag die Fähigkeit ſich in der
Welt zu erhalten. Der Zuſammenhang der Geſellſchaft, welcher
aus dieſer empiriſtiſchen Auffaſſung gefolgert wird, iſt nicht minder,
als der, den die ſpekulativen Schulen aufgeſtellt haben, eine von
abſtrakten Elementen aus entworfene Konſtruktion. Die wirkliche
Geſellſchaft iſt weder ein Mechanismus noch, wie andere ſie vor-
nehmer vorſtellen, ein Organismus. Nur zwei verſchiedene Seiten
deſſelben Standpunktes der Erfahrung ſind die den ſtrengen An-
forderungen der Wiſſenſchaft entſprechende Analyſis der Wirklich-
keit und das Anerkenntniß der über dieſe Analyſis hinausreichenden
Realität der Wirklichkeit. „Im Betrachten wie im Handeln“, be-
merkt Goethe, „iſt das Zugängliche von dem Unzugänglichen zu
unterſcheiden; ohne dies läßt ſich im Leben wie in der Wiſſen-
ſchaft wenig leiſten.“
Im Gegenſatz gegen den herrſchenden Empirismus wie gegen
die Spekulation mußte alſo zunächſt die geſchichtlich-geſellſchaftliche
Wirklichkeit in ihrer vollen Realität ſichtbar gemacht werden; auf
dieſe Wirklichkeit beziehen ſich alle folgenden Unterſuchungen. Im
Gegenſatz gegen die Entwürfe einer den ganzen Zuſammenhang
dieſer Wirklichkeit umſpannenden Wiſſenſchaft mußte das Ineinander-
greifen der Leiſtungen der geſchichtlich gewordenen, fruchtbaren
Einzelwiſſenſchaften gezeigt werden; in ihnen vollzieht ſich der
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/177>, abgerufen am 23.11.2024.
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