Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Erstes einleitendes Buch.
Bewußtsein seiner Provenienz in sich enthält; nur derjenige Satz
besitzt Sicherheit, dessen Begründung in ein unanfechtbares Wissen
zurückreicht. Die logischen Anforderungen an den Begriff sind
vom kritischen Standpunkt aus erst dann erfüllt, wenn im Zu-
sammenhang der Erkenntniß, in welchem er auftritt, ein Bewußt-
sein des Erkenntnißvorganges selber, durch den er gebildet wird,
vorhanden, und ihm durch dieses sein Ort in dem System
der Zeichen, welche sich auf die Wirklichkeit beziehen, eindeutig
bestimmt ist. Den logischen Anforderungen an ein Urtheil ist
erst dann entsprochen, wenn das Bewußtsein seines logischen
Grundes in dem Zusammenhang der Erkenntniß, in welchem es
auftritt, die erkenntnißtheoretische Klarheit über Gültigkeit und
Tragweite des ganzen Zusammenhangs psychischer Akte einschließt,
welche diesen Grund ausmachen. Daher führen die Anforderungen
der Logik an Begriffe und Sätze bis in das Hauptproblem aller
Erkenntnißtheorie zurück: Natur des unmittelbaren Wissens um
die Thatsachen des Bewußtseins und Verhältniß desselben zu dem
nach dem Satze vom Grunde fortschreitenden Erkennen.

Diese Erweiterung des Gesichtskreises der Logik ist in
Uebereinstimmung mit der Richtung der positiven Wissenschaften
selber. Indem das naturwissenschaftliche Denken über die natür-
liche Beziehung unserer Empfindungen auf Einzeldinge in Raum
und Zeit hinausgeht, findet es sich überall auf die genaue Be-
stimmung dieser Empfindungen selber zurückgeführt, sonach auf die
Bestimmung ihrer Abfolge nach einem allgemeingültigen Zeitmaß,
auf allgemeingültige Orts- und Größenbestimmungen sowie Elimi-
nirung der Beobachtungsfehler, kurz auf Methoden, durch welche die
Bildung der Wahrnehmungsurtheile selber zu logischer Vollkommen-
heit geführt werden kann. In Bezug auf die Geisteswissenschaften
aber zeigte sich uns, daß psychische und psychophysische Thatsachen
die Grundlage der Theorie nicht nur vom Individuum, sondern
ebenso von den Systemen der Kultur sowie von der äußeren Or-
ganisation der Gesellschaft bilden, und daß dieselben der historischen
Anschauung und Analysis in jedem ihrer Stadien zu Grunde
liegen. Daher die erkenntnißtheoretische Untersuchung über die Art,

Erſtes einleitendes Buch.
Bewußtſein ſeiner Provenienz in ſich enthält; nur derjenige Satz
beſitzt Sicherheit, deſſen Begründung in ein unanfechtbares Wiſſen
zurückreicht. Die logiſchen Anforderungen an den Begriff ſind
vom kritiſchen Standpunkt aus erſt dann erfüllt, wenn im Zu-
ſammenhang der Erkenntniß, in welchem er auftritt, ein Bewußt-
ſein des Erkenntnißvorganges ſelber, durch den er gebildet wird,
vorhanden, und ihm durch dieſes ſein Ort in dem Syſtem
der Zeichen, welche ſich auf die Wirklichkeit beziehen, eindeutig
beſtimmt iſt. Den logiſchen Anforderungen an ein Urtheil iſt
erſt dann entſprochen, wenn das Bewußtſein ſeines logiſchen
Grundes in dem Zuſammenhang der Erkenntniß, in welchem es
auftritt, die erkenntnißtheoretiſche Klarheit über Gültigkeit und
Tragweite des ganzen Zuſammenhangs pſychiſcher Akte einſchließt,
welche dieſen Grund ausmachen. Daher führen die Anforderungen
der Logik an Begriffe und Sätze bis in das Hauptproblem aller
Erkenntnißtheorie zurück: Natur des unmittelbaren Wiſſens um
die Thatſachen des Bewußtſeins und Verhältniß deſſelben zu dem
nach dem Satze vom Grunde fortſchreitenden Erkennen.

Dieſe Erweiterung des Geſichtskreiſes der Logik iſt in
Uebereinſtimmung mit der Richtung der poſitiven Wiſſenſchaften
ſelber. Indem das naturwiſſenſchaftliche Denken über die natür-
liche Beziehung unſerer Empfindungen auf Einzeldinge in Raum
und Zeit hinausgeht, findet es ſich überall auf die genaue Be-
ſtimmung dieſer Empfindungen ſelber zurückgeführt, ſonach auf die
Beſtimmung ihrer Abfolge nach einem allgemeingültigen Zeitmaß,
auf allgemeingültige Orts- und Größenbeſtimmungen ſowie Elimi-
nirung der Beobachtungsfehler, kurz auf Methoden, durch welche die
Bildung der Wahrnehmungsurtheile ſelber zu logiſcher Vollkommen-
heit geführt werden kann. In Bezug auf die Geiſteswiſſenſchaften
aber zeigte ſich uns, daß pſychiſche und pſychophyſiſche Thatſachen
die Grundlage der Theorie nicht nur vom Individuum, ſondern
ebenſo von den Syſtemen der Kultur ſowie von der äußeren Or-
ganiſation der Geſellſchaft bilden, und daß dieſelben der hiſtoriſchen
Anſchauung und Analyſis in jedem ihrer Stadien zu Grunde
liegen. Daher die erkenntnißtheoretiſche Unterſuchung über die Art,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0171" n="148"/><fw place="top" type="header">Er&#x017F;tes einleitendes Buch.</fw><lb/>
Bewußt&#x017F;ein &#x017F;einer Provenienz in &#x017F;ich enthält; nur derjenige Satz<lb/>
be&#x017F;itzt Sicherheit, de&#x017F;&#x017F;en Begründung in ein unanfechtbares Wi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
zurückreicht. Die logi&#x017F;chen Anforderungen an den Begriff &#x017F;ind<lb/>
vom kriti&#x017F;chen Standpunkt aus er&#x017F;t dann erfüllt, wenn im Zu-<lb/>
&#x017F;ammenhang der Erkenntniß, in welchem er auftritt, ein Bewußt-<lb/>
&#x017F;ein des Erkenntnißvorganges &#x017F;elber, durch den er gebildet wird,<lb/>
vorhanden, und ihm durch die&#x017F;es &#x017F;ein Ort in dem Sy&#x017F;tem<lb/>
der Zeichen, welche &#x017F;ich auf die Wirklichkeit beziehen, eindeutig<lb/>
be&#x017F;timmt i&#x017F;t. Den logi&#x017F;chen Anforderungen an ein Urtheil i&#x017F;t<lb/>
er&#x017F;t dann ent&#x017F;prochen, wenn das Bewußt&#x017F;ein &#x017F;eines logi&#x017F;chen<lb/>
Grundes in dem Zu&#x017F;ammenhang der Erkenntniß, in welchem es<lb/>
auftritt, die erkenntnißtheoreti&#x017F;che Klarheit über Gültigkeit und<lb/>
Tragweite des ganzen Zu&#x017F;ammenhangs p&#x017F;ychi&#x017F;cher Akte ein&#x017F;chließt,<lb/>
welche die&#x017F;en Grund ausmachen. Daher führen die Anforderungen<lb/>
der Logik an Begriffe und Sätze bis in das Hauptproblem aller<lb/>
Erkenntnißtheorie zurück: Natur des unmittelbaren Wi&#x017F;&#x017F;ens um<lb/>
die That&#x017F;achen des Bewußt&#x017F;eins und Verhältniß de&#x017F;&#x017F;elben zu dem<lb/>
nach dem Satze vom Grunde fort&#x017F;chreitenden Erkennen.</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;e Erweiterung des Ge&#x017F;ichtskrei&#x017F;es der Logik i&#x017F;t in<lb/>
Ueberein&#x017F;timmung mit der Richtung der po&#x017F;itiven Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften<lb/>
&#x017F;elber. Indem das naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Denken über die natür-<lb/>
liche Beziehung un&#x017F;erer Empfindungen auf Einzeldinge in Raum<lb/>
und Zeit hinausgeht, findet es &#x017F;ich überall auf die genaue Be-<lb/>
&#x017F;timmung die&#x017F;er Empfindungen &#x017F;elber zurückgeführt, &#x017F;onach auf die<lb/>
Be&#x017F;timmung ihrer Abfolge nach einem allgemeingültigen Zeitmaß,<lb/>
auf allgemeingültige Orts- und Größenbe&#x017F;timmungen &#x017F;owie Elimi-<lb/>
nirung der Beobachtungsfehler, kurz auf Methoden, durch welche die<lb/>
Bildung der Wahrnehmungsurtheile &#x017F;elber zu logi&#x017F;cher Vollkommen-<lb/>
heit geführt werden kann. In Bezug auf die Gei&#x017F;teswi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften<lb/>
aber zeigte &#x017F;ich uns, daß p&#x017F;ychi&#x017F;che und p&#x017F;ychophy&#x017F;i&#x017F;che That&#x017F;achen<lb/>
die Grundlage der Theorie nicht nur vom Individuum, &#x017F;ondern<lb/>
eben&#x017F;o von den Sy&#x017F;temen der Kultur &#x017F;owie von der äußeren Or-<lb/>
gani&#x017F;ation der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft bilden, und daß die&#x017F;elben der hi&#x017F;tori&#x017F;chen<lb/>
An&#x017F;chauung und Analy&#x017F;is in jedem ihrer Stadien zu Grunde<lb/>
liegen. Daher die erkenntnißtheoreti&#x017F;che Unter&#x017F;uchung über die Art,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[148/0171] Erſtes einleitendes Buch. Bewußtſein ſeiner Provenienz in ſich enthält; nur derjenige Satz beſitzt Sicherheit, deſſen Begründung in ein unanfechtbares Wiſſen zurückreicht. Die logiſchen Anforderungen an den Begriff ſind vom kritiſchen Standpunkt aus erſt dann erfüllt, wenn im Zu- ſammenhang der Erkenntniß, in welchem er auftritt, ein Bewußt- ſein des Erkenntnißvorganges ſelber, durch den er gebildet wird, vorhanden, und ihm durch dieſes ſein Ort in dem Syſtem der Zeichen, welche ſich auf die Wirklichkeit beziehen, eindeutig beſtimmt iſt. Den logiſchen Anforderungen an ein Urtheil iſt erſt dann entſprochen, wenn das Bewußtſein ſeines logiſchen Grundes in dem Zuſammenhang der Erkenntniß, in welchem es auftritt, die erkenntnißtheoretiſche Klarheit über Gültigkeit und Tragweite des ganzen Zuſammenhangs pſychiſcher Akte einſchließt, welche dieſen Grund ausmachen. Daher führen die Anforderungen der Logik an Begriffe und Sätze bis in das Hauptproblem aller Erkenntnißtheorie zurück: Natur des unmittelbaren Wiſſens um die Thatſachen des Bewußtſeins und Verhältniß deſſelben zu dem nach dem Satze vom Grunde fortſchreitenden Erkennen. Dieſe Erweiterung des Geſichtskreiſes der Logik iſt in Uebereinſtimmung mit der Richtung der poſitiven Wiſſenſchaften ſelber. Indem das naturwiſſenſchaftliche Denken über die natür- liche Beziehung unſerer Empfindungen auf Einzeldinge in Raum und Zeit hinausgeht, findet es ſich überall auf die genaue Be- ſtimmung dieſer Empfindungen ſelber zurückgeführt, ſonach auf die Beſtimmung ihrer Abfolge nach einem allgemeingültigen Zeitmaß, auf allgemeingültige Orts- und Größenbeſtimmungen ſowie Elimi- nirung der Beobachtungsfehler, kurz auf Methoden, durch welche die Bildung der Wahrnehmungsurtheile ſelber zu logiſcher Vollkommen- heit geführt werden kann. In Bezug auf die Geiſteswiſſenſchaften aber zeigte ſich uns, daß pſychiſche und pſychophyſiſche Thatſachen die Grundlage der Theorie nicht nur vom Individuum, ſondern ebenſo von den Syſtemen der Kultur ſowie von der äußeren Or- ganiſation der Geſellſchaft bilden, und daß dieſelben der hiſtoriſchen Anſchauung und Analyſis in jedem ihrer Stadien zu Grunde liegen. Daher die erkenntnißtheoretiſche Unterſuchung über die Art,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/171
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/171>, abgerufen am 05.05.2024.