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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
zuhalten: er besteht darin, daß die Constanz der äußeren bio-
logischen Organisation die Constanz einer gewissen psychischen
Grundstruktur darthut, dann aber -- doch wir geben seine Worte --
nous avons reconnu, que le sens general de l'evolution
humaine consiste surtout a diminuer de plus en plus l'ine-
vitable preponderance, necessairement toujours fondamentale,
mais d'abord excessive, de la vie affective sur la vie in-
tellectuelle, ou suivant la formule anatomique, de la region
posterieure du cerveau sur la region frontale
1). Derbe
naturalistische Metaphysik -- das ist die wirkliche Grundlage
seiner Sociologie. -- Andrerseits ist der "allgemeine Sinn der
menschheitlichen Entwicklung", wie er ihn der Anschauung des
geschichtlichen Weltlaufs abgewinnt, wieder nichts als eine notio
universalis,
eine verworrene und unbestimmte Allgemeinvor-
stellung, welche aus dem bloßen Ueberblick über den geschichtlichen
Zusammenhang abstrahirt ist. Eine unwissenschaftliche Abstraktion,
unter deren weitem Mantel die wachsende Herrschaft des Menschen
über die Natur, der wachsende Einfluß der höheren Fähigkeiten
über die niederen, der Intelligenz über die Affekte, unsrer socialen
über unsere egoistischen Neigungen sich zusammenfinden 2). Diese
abstrakten Bilder der Geschichtsphilosophen stellen den geschicht-
lichen Weltlauf nur in immer anderen Verkürzungen dar.

Geht man zur Ausführung über, vermittelst deren der Schüler
de Maistre's sein Papstthum der naturwissenschaftlichen Intelligenz
begründet, so bildet diese eine merkwürdige Bestätigung unserer
Sätze. Das Gesetz, das Comte wirklich gefunden hat, welches die
Beziehungen der logischen Abhängigkeit von Wahrheiten unter-
einander zu ihrer geschichtlichen Abfolge ausdrückt (wenn es auch
noch unvollkommen bei ihm formulirt ist) gehört einer Einzel-
wissenschaft des Geistes an, und es wurde von ihm vermöge einer
anhaltenden und tiefeindringenden Beschäftigung mit diesem Kreise
der gesellschaftlichen Wirklichkeit gefunden. Die Generalisation
von den drei Epochen ist in ihren wahren Grundzügen von

1) philos. pos. 5, 45.
2) philos. pos. 4, 623 ff.

Erſtes einleitendes Buch.
zuhalten: er beſteht darin, daß die Conſtanz der äußeren bio-
logiſchen Organiſation die Conſtanz einer gewiſſen pſychiſchen
Grundſtruktur darthut, dann aber — doch wir geben ſeine Worte —
nous avons reconnu, que le sens général de l’évolution
humaine consiste surtout à diminuer de plus en plus l’iné-
vitable prépondérance, nécessairement toujours fondamentale,
mais d’abord excessive, de la vie affective sur la vie in-
tellectuelle, ou suivant la formule anatomique, de la région
postérieure du cerveau sur la région frontale
1). Derbe
naturaliſtiſche Metaphyſik — das iſt die wirkliche Grundlage
ſeiner Sociologie. — Andrerſeits iſt der „allgemeine Sinn der
menſchheitlichen Entwicklung“, wie er ihn der Anſchauung des
geſchichtlichen Weltlaufs abgewinnt, wieder nichts als eine notio
universalis,
eine verworrene und unbeſtimmte Allgemeinvor-
ſtellung, welche aus dem bloßen Ueberblick über den geſchichtlichen
Zuſammenhang abſtrahirt iſt. Eine unwiſſenſchaftliche Abſtraktion,
unter deren weitem Mantel die wachſende Herrſchaft des Menſchen
über die Natur, der wachſende Einfluß der höheren Fähigkeiten
über die niederen, der Intelligenz über die Affekte, unſrer ſocialen
über unſere egoiſtiſchen Neigungen ſich zuſammenfinden 2). Dieſe
abſtrakten Bilder der Geſchichtsphiloſophen ſtellen den geſchicht-
lichen Weltlauf nur in immer anderen Verkürzungen dar.

Geht man zur Ausführung über, vermittelſt deren der Schüler
de Maiſtre’s ſein Papſtthum der naturwiſſenſchaftlichen Intelligenz
begründet, ſo bildet dieſe eine merkwürdige Beſtätigung unſerer
Sätze. Das Geſetz, das Comte wirklich gefunden hat, welches die
Beziehungen der logiſchen Abhängigkeit von Wahrheiten unter-
einander zu ihrer geſchichtlichen Abfolge ausdrückt (wenn es auch
noch unvollkommen bei ihm formulirt iſt) gehört einer Einzel-
wiſſenſchaft des Geiſtes an, und es wurde von ihm vermöge einer
anhaltenden und tiefeindringenden Beſchäftigung mit dieſem Kreiſe
der geſellſchaftlichen Wirklichkeit gefunden. Die Generaliſation
von den drei Epochen iſt in ihren wahren Grundzügen von

1) philos. pos. 5, 45.
2) philos. pos. 4, 623 ff.
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[134/0157] Erſtes einleitendes Buch. zuhalten: er beſteht darin, daß die Conſtanz der äußeren bio- logiſchen Organiſation die Conſtanz einer gewiſſen pſychiſchen Grundſtruktur darthut, dann aber — doch wir geben ſeine Worte — nous avons reconnu, que le sens général de l’évolution humaine consiste surtout à diminuer de plus en plus l’iné- vitable prépondérance, nécessairement toujours fondamentale, mais d’abord excessive, de la vie affective sur la vie in- tellectuelle, ou suivant la formule anatomique, de la région postérieure du cerveau sur la région frontale 1). Derbe naturaliſtiſche Metaphyſik — das iſt die wirkliche Grundlage ſeiner Sociologie. — Andrerſeits iſt der „allgemeine Sinn der menſchheitlichen Entwicklung“, wie er ihn der Anſchauung des geſchichtlichen Weltlaufs abgewinnt, wieder nichts als eine notio universalis, eine verworrene und unbeſtimmte Allgemeinvor- ſtellung, welche aus dem bloßen Ueberblick über den geſchichtlichen Zuſammenhang abſtrahirt iſt. Eine unwiſſenſchaftliche Abſtraktion, unter deren weitem Mantel die wachſende Herrſchaft des Menſchen über die Natur, der wachſende Einfluß der höheren Fähigkeiten über die niederen, der Intelligenz über die Affekte, unſrer ſocialen über unſere egoiſtiſchen Neigungen ſich zuſammenfinden 2). Dieſe abſtrakten Bilder der Geſchichtsphiloſophen ſtellen den geſchicht- lichen Weltlauf nur in immer anderen Verkürzungen dar. Geht man zur Ausführung über, vermittelſt deren der Schüler de Maiſtre’s ſein Papſtthum der naturwiſſenſchaftlichen Intelligenz begründet, ſo bildet dieſe eine merkwürdige Beſtätigung unſerer Sätze. Das Geſetz, das Comte wirklich gefunden hat, welches die Beziehungen der logiſchen Abhängigkeit von Wahrheiten unter- einander zu ihrer geſchichtlichen Abfolge ausdrückt (wenn es auch noch unvollkommen bei ihm formulirt iſt) gehört einer Einzel- wiſſenſchaft des Geiſtes an, und es wurde von ihm vermöge einer anhaltenden und tiefeindringenden Beſchäftigung mit dieſem Kreiſe der geſellſchaftlichen Wirklichkeit gefunden. Die Generaliſation von den drei Epochen iſt in ihren wahren Grundzügen von 1) philos. pos. 5, 45. 2) philos. pos. 4, 623 ff.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/157>, abgerufen am 22.11.2024.