Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Erstes einleitendes Buch. entspringen dauernde Verhältnisse dieser Art aus dem wirthschaft-lichen Leben und den anderen Kultursystemen. Vor Allem aber: in Familie, Staat und Kirche, in Körperschaften und in Anstalten sind Willen zu Verbänden zusammengefügt, durch welche eine theil- weise Einheit derselben entsteht: dies sind constante Gebilde von freilich sehr verschiedener Lebensdauer, welche beharren, während Individuen ein- und austreten, wie ein Organismus beharrt trotz des Eintritts und Austritts der Molecüle und Atome, aus denen er besteht. Wie viele Geschlechter der Menschen, wie viele Gestal- tungen der Gesellschaft hat die mächtigste Organisation, welche der Boden dieser Erde bisher getragen hat, die katholische Kirche, kommen und gehen sehen, von der Zeit, in welcher Sklaven neben ihren Herren zu den unterirdischen Grüften der Märtyrer schlichen, zu der Zeit, in welcher in ihren mächtigen Domen der adlige Grund- herr und der leibeigene Mann, dazwischen ein freier Bauer, der Innungsgenosse aus der Stadt und der Mönch vereinigt waren, bis zu dem heutigen Tag, an dem diese bunte Gliederung in dem modernen Staat großentheils untergegangen ist! So sind in der Geschichte Verbände der verschiedensten Lebensdauer ineinanderver- flochten. Indem das Verbandsleben der Menschheit eine Generation mit der anderen in einem sie überdauernden Gebilde verknüpft, sammelt sich in der festeren Form, die so entsteht, sichrer, behüte- ter, wie unter einer schützenden Bedeckung, der durch die Arbeit des Menschengeschlechtes innerhalb der Kultursysteme wach- sende Erwerb. So ist Association eines der mächtigsten Hilfsmittel des geschichtlichen Fortschritts. Indem sie die Gegenwärtigen mit denen vor ihnen und nach ihnen verknüpft, entstehen willensmächtige Einheiten, deren Spiel und Widerspiel das große Welttheater der Geschichte erfüllt. Keine Phantasie kann die Fruchtbarkeit dieses Prinzips in der künftigen Gestaltung der Gesellschaft ausdenken. Vermochte doch die Menschenbeobachtung eines Kant das Traum- bild vor seiner Seele nicht zu verscheuchen, welches zu dem Gefühl von Verwandtschaft, das die Menschheit einschließt, zu der Coordi- nation unsrer Thätigkeiten und unserer Zwecke, zu der örtlichen Vereinigung auf dieser Erde, als unsrem gemeinsamen Wohnhause, Erſtes einleitendes Buch. entſpringen dauernde Verhältniſſe dieſer Art aus dem wirthſchaft-lichen Leben und den anderen Kulturſyſtemen. Vor Allem aber: in Familie, Staat und Kirche, in Körperſchaften und in Anſtalten ſind Willen zu Verbänden zuſammengefügt, durch welche eine theil- weiſe Einheit derſelben entſteht: dies ſind conſtante Gebilde von freilich ſehr verſchiedener Lebensdauer, welche beharren, während Individuen ein- und austreten, wie ein Organismus beharrt trotz des Eintritts und Austritts der Molecüle und Atome, aus denen er beſteht. Wie viele Geſchlechter der Menſchen, wie viele Geſtal- tungen der Geſellſchaft hat die mächtigſte Organiſation, welche der Boden dieſer Erde bisher getragen hat, die katholiſche Kirche, kommen und gehen ſehen, von der Zeit, in welcher Sklaven neben ihren Herren zu den unterirdiſchen Grüften der Märtyrer ſchlichen, zu der Zeit, in welcher in ihren mächtigen Domen der adlige Grund- herr und der leibeigene Mann, dazwiſchen ein freier Bauer, der Innungsgenoſſe aus der Stadt und der Mönch vereinigt waren, bis zu dem heutigen Tag, an dem dieſe bunte Gliederung in dem modernen Staat großentheils untergegangen iſt! So ſind in der Geſchichte Verbände der verſchiedenſten Lebensdauer ineinanderver- flochten. Indem das Verbandsleben der Menſchheit eine Generation mit der anderen in einem ſie überdauernden Gebilde verknüpft, ſammelt ſich in der feſteren Form, die ſo entſteht, ſichrer, behüte- ter, wie unter einer ſchützenden Bedeckung, der durch die Arbeit des Menſchengeſchlechtes innerhalb der Kulturſyſteme wach- ſende Erwerb. So iſt Aſſociation eines der mächtigſten Hilfsmittel des geſchichtlichen Fortſchritts. Indem ſie die Gegenwärtigen mit denen vor ihnen und nach ihnen verknüpft, entſtehen willensmächtige Einheiten, deren Spiel und Widerſpiel das große Welttheater der Geſchichte erfüllt. Keine Phantaſie kann die Fruchtbarkeit dieſes Prinzips in der künftigen Geſtaltung der Geſellſchaft ausdenken. Vermochte doch die Menſchenbeobachtung eines Kant das Traum- bild vor ſeiner Seele nicht zu verſcheuchen, welches zu dem Gefühl von Verwandtſchaft, das die Menſchheit einſchließt, zu der Coordi- nation unſrer Thätigkeiten und unſerer Zwecke, zu der örtlichen Vereinigung auf dieſer Erde, als unſrem gemeinſamen Wohnhauſe, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0105" n="82"/><fw place="top" type="header">Erſtes einleitendes Buch.</fw><lb/> entſpringen dauernde Verhältniſſe dieſer Art aus dem wirthſchaft-<lb/> lichen Leben und den anderen Kulturſyſtemen. 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Erſtes einleitendes Buch.
entſpringen dauernde Verhältniſſe dieſer Art aus dem wirthſchaft-
lichen Leben und den anderen Kulturſyſtemen. Vor Allem aber:
in Familie, Staat und Kirche, in Körperſchaften und in Anſtalten
ſind Willen zu Verbänden zuſammengefügt, durch welche eine theil-
weiſe Einheit derſelben entſteht: dies ſind conſtante Gebilde von
freilich ſehr verſchiedener Lebensdauer, welche beharren, während
Individuen ein- und austreten, wie ein Organismus beharrt trotz
des Eintritts und Austritts der Molecüle und Atome, aus denen
er beſteht. Wie viele Geſchlechter der Menſchen, wie viele Geſtal-
tungen der Geſellſchaft hat die mächtigſte Organiſation, welche der
Boden dieſer Erde bisher getragen hat, die katholiſche Kirche,
kommen und gehen ſehen, von der Zeit, in welcher Sklaven neben
ihren Herren zu den unterirdiſchen Grüften der Märtyrer ſchlichen, zu
der Zeit, in welcher in ihren mächtigen Domen der adlige Grund-
herr und der leibeigene Mann, dazwiſchen ein freier Bauer, der
Innungsgenoſſe aus der Stadt und der Mönch vereinigt waren,
bis zu dem heutigen Tag, an dem dieſe bunte Gliederung in dem
modernen Staat großentheils untergegangen iſt! So ſind in der
Geſchichte Verbände der verſchiedenſten Lebensdauer ineinanderver-
flochten. Indem das Verbandsleben der Menſchheit eine Generation
mit der anderen in einem ſie überdauernden Gebilde verknüpft,
ſammelt ſich in der feſteren Form, die ſo entſteht, ſichrer, behüte-
ter, wie unter einer ſchützenden Bedeckung, der durch die
Arbeit des Menſchengeſchlechtes innerhalb der Kulturſyſteme wach-
ſende Erwerb. So iſt Aſſociation eines der mächtigſten Hilfsmittel
des geſchichtlichen Fortſchritts. Indem ſie die Gegenwärtigen mit
denen vor ihnen und nach ihnen verknüpft, entſtehen willensmächtige
Einheiten, deren Spiel und Widerſpiel das große Welttheater der
Geſchichte erfüllt. Keine Phantaſie kann die Fruchtbarkeit dieſes
Prinzips in der künftigen Geſtaltung der Geſellſchaft ausdenken.
Vermochte doch die Menſchenbeobachtung eines Kant das Traum-
bild vor ſeiner Seele nicht zu verſcheuchen, welches zu dem Gefühl
von Verwandtſchaft, das die Menſchheit einſchließt, zu der Coordi-
nation unſrer Thätigkeiten und unſerer Zwecke, zu der örtlichen
Vereinigung auf dieſer Erde, als unſrem gemeinſamen Wohnhauſe,
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