Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Sittlichkeit ein System der Kultur.
Verbindung psychologischer Selbstbesinnung mit der Vergleichung
seiner Modifikationen bei verschiedenen Völkern, für welche von
allen Geschichtschreibern Jakob Burckhardt den tiefsten Blick ge-
zeigt hat.

Dieses System der Sittlichkeit besteht nicht in Handlungen
der Menschen, ja kann nicht einmal an diesen zunächst studirt
werden, sondern es besteht in einer bestimmten Gruppe von
Thatsachen des Bewußtseins und demjenigen Bestandtheil der
menschlichen Handlungen, welcher durch sie hervorgebracht wird.
Wir suchen zunächst diese Thatsachen des Bewußtseins in ihrer
Vollständigkeit aufzufassen. Das Sittliche ist in einer doppelten
Form vorhanden, und die beiden Gestalten, in denen es erscheint,
wurden Ausgangspunkte für zwei einseitige Schulen der Moral.
Es ist da als Urtheil des Zuschauers über Handlungen und als
ein Bestandtheil in den Motiven, welcher ihnen einen von dem
Erfolg der Handlungen in der Außenwelt (sonach der Zweck-
mäßigkeit derselben) unabhängigen Gehalt giebt. Es ist in beiden
Gestalten dasselbe. In der einen erscheint es als in der Motivation
lebendige Kraft, in der anderen als von außen gegen die Hand-
lungen anderer Individuen in unparteiischer Billigung oder Miß-
billigung reagirende Kraft. Dieser wichtige Satz kann folgender-
maßen bewiesen werden. In jedem Fall, in welchem ich mich
als Handelnder unter der Nöthigung einer moralischen Verbind-
lichkeit befinde, läßt sich diese in demselben Satz ausdrücken, welcher
meinem Urtheil als Zuschauer zu Grunde liegt. Indem die Ethik
bisher immer eine von beiden Gestalten zu Grunde legte, Kant
und Fichte das Sittliche als in der Motivation lebendige Kraft,
die hervorragenden englischen Moralisten und Herbart als eine
von außen gegen die Handlungen Anderer reagirende Kraft: gingen
sie der allseitigen, ganz gründlichen Einsicht verlustig. Denn Bei-
fall und Mißfallen des Zuschauers enthalten das Sittliche zwar
ungesondert (ein unschätzbarer Vortheil), aber in abgeblaßter Form.
Zumal die innere Verbindung des Beweggrundes mit dem ganzen
Inhalt des Geistes, wie sie in den sittlichen Kämpfen des Han-
delnden mit solcher Gewalt an das Licht gebracht wird, ist hier

Sittlichkeit ein Syſtem der Kultur.
Verbindung pſychologiſcher Selbſtbeſinnung mit der Vergleichung
ſeiner Modifikationen bei verſchiedenen Völkern, für welche von
allen Geſchichtſchreibern Jakob Burckhardt den tiefſten Blick ge-
zeigt hat.

Dieſes Syſtem der Sittlichkeit beſteht nicht in Handlungen
der Menſchen, ja kann nicht einmal an dieſen zunächſt ſtudirt
werden, ſondern es beſteht in einer beſtimmten Gruppe von
Thatſachen des Bewußtſeins und demjenigen Beſtandtheil der
menſchlichen Handlungen, welcher durch ſie hervorgebracht wird.
Wir ſuchen zunächſt dieſe Thatſachen des Bewußtſeins in ihrer
Vollſtändigkeit aufzufaſſen. Das Sittliche iſt in einer doppelten
Form vorhanden, und die beiden Geſtalten, in denen es erſcheint,
wurden Ausgangspunkte für zwei einſeitige Schulen der Moral.
Es iſt da als Urtheil des Zuſchauers über Handlungen und als
ein Beſtandtheil in den Motiven, welcher ihnen einen von dem
Erfolg der Handlungen in der Außenwelt (ſonach der Zweck-
mäßigkeit derſelben) unabhängigen Gehalt giebt. Es iſt in beiden
Geſtalten daſſelbe. In der einen erſcheint es als in der Motivation
lebendige Kraft, in der anderen als von außen gegen die Hand-
lungen anderer Individuen in unparteiiſcher Billigung oder Miß-
billigung reagirende Kraft. Dieſer wichtige Satz kann folgender-
maßen bewieſen werden. In jedem Fall, in welchem ich mich
als Handelnder unter der Nöthigung einer moraliſchen Verbind-
lichkeit befinde, läßt ſich dieſe in demſelben Satz ausdrücken, welcher
meinem Urtheil als Zuſchauer zu Grunde liegt. Indem die Ethik
bisher immer eine von beiden Geſtalten zu Grunde legte, Kant
und Fichte das Sittliche als in der Motivation lebendige Kraft,
die hervorragenden engliſchen Moraliſten und Herbart als eine
von außen gegen die Handlungen Anderer reagirende Kraft: gingen
ſie der allſeitigen, ganz gründlichen Einſicht verluſtig. Denn Bei-
fall und Mißfallen des Zuſchauers enthalten das Sittliche zwar
ungeſondert (ein unſchätzbarer Vortheil), aber in abgeblaßter Form.
Zumal die innere Verbindung des Beweggrundes mit dem ganzen
Inhalt des Geiſtes, wie ſie in den ſittlichen Kämpfen des Han-
delnden mit ſolcher Gewalt an das Licht gebracht wird, iſt hier

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0100" n="77"/><fw place="top" type="header">Sittlichkeit ein Sy&#x017F;tem der Kultur.</fw><lb/>
Verbindung p&#x017F;ychologi&#x017F;cher Selb&#x017F;tbe&#x017F;innung mit der Vergleichung<lb/>
&#x017F;einer Modifikationen bei ver&#x017F;chiedenen Völkern, für welche von<lb/>
allen Ge&#x017F;chicht&#x017F;chreibern Jakob Burckhardt den tief&#x017F;ten Blick ge-<lb/>
zeigt hat.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;es Sy&#x017F;tem der Sittlichkeit be&#x017F;teht nicht in Handlungen<lb/>
der Men&#x017F;chen, ja kann nicht einmal an die&#x017F;en zunäch&#x017F;t &#x017F;tudirt<lb/>
werden, &#x017F;ondern es be&#x017F;teht in einer be&#x017F;timmten Gruppe von<lb/>
That&#x017F;achen des Bewußt&#x017F;eins und demjenigen Be&#x017F;tandtheil der<lb/>
men&#x017F;chlichen Handlungen, welcher durch &#x017F;ie hervorgebracht wird.<lb/>
Wir &#x017F;uchen zunäch&#x017F;t die&#x017F;e That&#x017F;achen des Bewußt&#x017F;eins in ihrer<lb/>
Voll&#x017F;tändigkeit aufzufa&#x017F;&#x017F;en. Das Sittliche i&#x017F;t in einer doppelten<lb/>
Form vorhanden, und die beiden Ge&#x017F;talten, in denen es er&#x017F;cheint,<lb/>
wurden Ausgangspunkte für zwei ein&#x017F;eitige Schulen der Moral.<lb/>
Es i&#x017F;t da als Urtheil des Zu&#x017F;chauers über Handlungen und als<lb/>
ein Be&#x017F;tandtheil in den Motiven, welcher ihnen einen von dem<lb/>
Erfolg der Handlungen in der Außenwelt (&#x017F;onach der Zweck-<lb/>
mäßigkeit der&#x017F;elben) unabhängigen Gehalt giebt. Es i&#x017F;t in beiden<lb/>
Ge&#x017F;talten da&#x017F;&#x017F;elbe. In der einen er&#x017F;cheint es als in der Motivation<lb/>
lebendige Kraft, in der anderen als von außen gegen die Hand-<lb/>
lungen anderer Individuen in unparteii&#x017F;cher Billigung oder Miß-<lb/>
billigung reagirende Kraft. Die&#x017F;er wichtige Satz kann folgender-<lb/>
maßen bewie&#x017F;en werden. In jedem Fall, in welchem ich mich<lb/>
als Handelnder unter der Nöthigung einer morali&#x017F;chen Verbind-<lb/>
lichkeit befinde, läßt &#x017F;ich die&#x017F;e in dem&#x017F;elben Satz ausdrücken, welcher<lb/>
meinem Urtheil als Zu&#x017F;chauer zu Grunde liegt. Indem die Ethik<lb/>
bisher immer eine von beiden Ge&#x017F;talten zu Grunde legte, Kant<lb/>
und Fichte das Sittliche als in der Motivation lebendige Kraft,<lb/>
die hervorragenden engli&#x017F;chen Morali&#x017F;ten und Herbart als eine<lb/>
von außen gegen die Handlungen Anderer reagirende Kraft: gingen<lb/>
&#x017F;ie der all&#x017F;eitigen, ganz gründlichen Ein&#x017F;icht verlu&#x017F;tig. Denn Bei-<lb/>
fall und Mißfallen des Zu&#x017F;chauers enthalten das Sittliche zwar<lb/>
unge&#x017F;ondert (ein un&#x017F;chätzbarer Vortheil), aber in abgeblaßter Form.<lb/>
Zumal die innere Verbindung des Beweggrundes mit dem ganzen<lb/>
Inhalt des Gei&#x017F;tes, wie &#x017F;ie in den &#x017F;ittlichen Kämpfen des Han-<lb/>
delnden mit &#x017F;olcher Gewalt an das Licht gebracht wird, i&#x017F;t hier<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[77/0100] Sittlichkeit ein Syſtem der Kultur. Verbindung pſychologiſcher Selbſtbeſinnung mit der Vergleichung ſeiner Modifikationen bei verſchiedenen Völkern, für welche von allen Geſchichtſchreibern Jakob Burckhardt den tiefſten Blick ge- zeigt hat. Dieſes Syſtem der Sittlichkeit beſteht nicht in Handlungen der Menſchen, ja kann nicht einmal an dieſen zunächſt ſtudirt werden, ſondern es beſteht in einer beſtimmten Gruppe von Thatſachen des Bewußtſeins und demjenigen Beſtandtheil der menſchlichen Handlungen, welcher durch ſie hervorgebracht wird. Wir ſuchen zunächſt dieſe Thatſachen des Bewußtſeins in ihrer Vollſtändigkeit aufzufaſſen. Das Sittliche iſt in einer doppelten Form vorhanden, und die beiden Geſtalten, in denen es erſcheint, wurden Ausgangspunkte für zwei einſeitige Schulen der Moral. Es iſt da als Urtheil des Zuſchauers über Handlungen und als ein Beſtandtheil in den Motiven, welcher ihnen einen von dem Erfolg der Handlungen in der Außenwelt (ſonach der Zweck- mäßigkeit derſelben) unabhängigen Gehalt giebt. Es iſt in beiden Geſtalten daſſelbe. In der einen erſcheint es als in der Motivation lebendige Kraft, in der anderen als von außen gegen die Hand- lungen anderer Individuen in unparteiiſcher Billigung oder Miß- billigung reagirende Kraft. Dieſer wichtige Satz kann folgender- maßen bewieſen werden. In jedem Fall, in welchem ich mich als Handelnder unter der Nöthigung einer moraliſchen Verbind- lichkeit befinde, läßt ſich dieſe in demſelben Satz ausdrücken, welcher meinem Urtheil als Zuſchauer zu Grunde liegt. Indem die Ethik bisher immer eine von beiden Geſtalten zu Grunde legte, Kant und Fichte das Sittliche als in der Motivation lebendige Kraft, die hervorragenden engliſchen Moraliſten und Herbart als eine von außen gegen die Handlungen Anderer reagirende Kraft: gingen ſie der allſeitigen, ganz gründlichen Einſicht verluſtig. Denn Bei- fall und Mißfallen des Zuſchauers enthalten das Sittliche zwar ungeſondert (ein unſchätzbarer Vortheil), aber in abgeblaßter Form. Zumal die innere Verbindung des Beweggrundes mit dem ganzen Inhalt des Geiſtes, wie ſie in den ſittlichen Kämpfen des Han- delnden mit ſolcher Gewalt an das Licht gebracht wird, iſt hier

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/100
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/100>, abgerufen am 04.05.2024.