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Diesterweg, Adolph: Über das Verderben auf den deutschen Universitäten. Essen, 1836.

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Ja, offen sprechen wir es aus, und erwarten den auf
offenem Felde, der es unternimmt, uns zu widerlegen: nir-
gends auf Erden herrscht unter Gebildeten die Humanität we-
niger, als unter den Gelehrten. Das Volkssprichwort charak-
terisirt viele in Wahrheit: "Je gelehrter, desto verkehrter",
in Gesinnung, im Leben. Nirgends findet man mehr Scheel-
sucht und Neid als unter denen, die aus der Cultur der Wis-
senschaften Profession machen. Nirgends weniger Aneinander-
schließen, nirgends so viel gegenseitiges Isoliren als unter
ihnen. Die Männer derselben Facultät sind in der Regel --
gegen einander. Man sollte denken: da sie einer Sache,
z. B. der Philosophie, der Medicin, der Theologie etc. dienen,
also unter einer Fahne fechten, so würden sie in gemein-
schaftlichem Eifer für die Wissenschaft und aus Liebe zu den
für sie zu gewinnenden Jünglingen zusammenhalten und nicht
durch kleinliche Persönlichkeiten auseinander gehalten werden.
Aber, aber -- lauter Parteisucht, Anfeindung, Haß. Der
Allöopath steht dem Homöopathen, der Hegelianer dem Kan-
tianer, der Supranaturalist dem Rationalisten, der Altdeutsche
dem Neudeutschen diametral gegenüber. Als Parteimenschen
kennen sie keine Humanität, Christenthum, Liebe, Gemein-
geist, und wie diese hohen Dinge heißen; suchet sie überall,
wo ihr wollt, nur nicht in den Orten, die sie Musensitze
benamset haben.

Und solche Parteimänner sollen der Blüthe der deutschen
Nation als Vorbilder dienen!

5) Sie leben nicht in Ideen.

Die Ideen, die das würdige männliche Leben überhaupt
beleben müssen, sind: der Hochgedanke der Tugend
und Pflicht
, die Ausbildung des Berufskreises,
dem man sich gewidmet hat, und die Fortentwicklung

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Ja, offen ſprechen wir es aus, und erwarten den auf
offenem Felde, der es unternimmt, uns zu widerlegen: nir-
gends auf Erden herrſcht unter Gebildeten die Humanitaͤt we-
niger, als unter den Gelehrten. Das Volksſprichwort charak-
teriſirt viele in Wahrheit: „Je gelehrter, deſto verkehrter“,
in Geſinnung, im Leben. Nirgends findet man mehr Scheel-
ſucht und Neid als unter denen, die aus der Cultur der Wiſ-
ſenſchaften Profeſſion machen. Nirgends weniger Aneinander-
ſchließen, nirgends ſo viel gegenſeitiges Iſoliren als unter
ihnen. Die Maͤnner derſelben Facultaͤt ſind in der Regel —
gegen einander. Man ſollte denken: da ſie einer Sache,
z. B. der Philoſophie, der Medicin, der Theologie ꝛc. dienen,
alſo unter einer Fahne fechten, ſo wuͤrden ſie in gemein-
ſchaftlichem Eifer fuͤr die Wiſſenſchaft und aus Liebe zu den
fuͤr ſie zu gewinnenden Juͤnglingen zuſammenhalten und nicht
durch kleinliche Perſoͤnlichkeiten auseinander gehalten werden.
Aber, aber — lauter Parteiſucht, Anfeindung, Haß. Der
Alloͤopath ſteht dem Homoͤopathen, der Hegelianer dem Kan-
tianer, der Supranaturaliſt dem Rationaliſten, der Altdeutſche
dem Neudeutſchen diametral gegenuͤber. Als Parteimenſchen
kennen ſie keine Humanitaͤt, Chriſtenthum, Liebe, Gemein-
geiſt, und wie dieſe hohen Dinge heißen; ſuchet ſie uͤberall,
wo ihr wollt, nur nicht in den Orten, die ſie Muſenſitze
benamſet haben.

Und ſolche Parteimaͤnner ſollen der Bluͤthe der deutſchen
Nation als Vorbilder dienen!

5) Sie leben nicht in Ideen.

Die Ideen, die das wuͤrdige maͤnnliche Leben uͤberhaupt
beleben muͤſſen, ſind: der Hochgedanke der Tugend
und Pflicht
, die Ausbildung des Berufskreiſes,
dem man ſich gewidmet hat, und die Fortentwicklung

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[53/0071] Ja, offen ſprechen wir es aus, und erwarten den auf offenem Felde, der es unternimmt, uns zu widerlegen: nir- gends auf Erden herrſcht unter Gebildeten die Humanitaͤt we- niger, als unter den Gelehrten. Das Volksſprichwort charak- teriſirt viele in Wahrheit: „Je gelehrter, deſto verkehrter“, in Geſinnung, im Leben. Nirgends findet man mehr Scheel- ſucht und Neid als unter denen, die aus der Cultur der Wiſ- ſenſchaften Profeſſion machen. Nirgends weniger Aneinander- ſchließen, nirgends ſo viel gegenſeitiges Iſoliren als unter ihnen. Die Maͤnner derſelben Facultaͤt ſind in der Regel — gegen einander. Man ſollte denken: da ſie einer Sache, z. B. der Philoſophie, der Medicin, der Theologie ꝛc. dienen, alſo unter einer Fahne fechten, ſo wuͤrden ſie in gemein- ſchaftlichem Eifer fuͤr die Wiſſenſchaft und aus Liebe zu den fuͤr ſie zu gewinnenden Juͤnglingen zuſammenhalten und nicht durch kleinliche Perſoͤnlichkeiten auseinander gehalten werden. Aber, aber — lauter Parteiſucht, Anfeindung, Haß. Der Alloͤopath ſteht dem Homoͤopathen, der Hegelianer dem Kan- tianer, der Supranaturaliſt dem Rationaliſten, der Altdeutſche dem Neudeutſchen diametral gegenuͤber. Als Parteimenſchen kennen ſie keine Humanitaͤt, Chriſtenthum, Liebe, Gemein- geiſt, und wie dieſe hohen Dinge heißen; ſuchet ſie uͤberall, wo ihr wollt, nur nicht in den Orten, die ſie Muſenſitze benamſet haben. Und ſolche Parteimaͤnner ſollen der Bluͤthe der deutſchen Nation als Vorbilder dienen! 5) Sie leben nicht in Ideen. Die Ideen, die das wuͤrdige maͤnnliche Leben uͤberhaupt beleben muͤſſen, ſind: der Hochgedanke der Tugend und Pflicht, die Ausbildung des Berufskreiſes, dem man ſich gewidmet hat, und die Fortentwicklung 5

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Zitationshilfe: Diesterweg, Adolph: Über das Verderben auf den deutschen Universitäten. Essen, 1836, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/diesterweg_universitaeten_1836/71>, abgerufen am 23.11.2024.