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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Denkmalschutz und Denkmalpflege
meisterei. Man könnte die Künstler, die durch eine unverstandene
historische Bildung sich darein verstricken lassen, bemitleiden,
wären sie nicht so schädlich. Es ist nicht zu sagen, wieviel gute
alte Kunst durch den Purismus verschleudert worden ist. Und
schlimmer noch als der Untergang der einzelnen Stücke ist der
Verlust an Lebenswärme, an historischer und künstlerischer Gesamt-
stimmung, an jener Vornehmheit, die nur das Alter hat. Will man
heute echte Ensemblewirkungen sehen, so muß man sie schon in ent-
legenen Dorfkirchen aufsuchen oder in Spanien und einzelnen Teilen
Italiens, die durch ihre Armut vor den restaurierenden Pedanten
geschützt geblieben sind. Dort lernt man ihren unersetzlichen Wert
erkennen. Habe ich noch hinzuzufügen nötig, daß, wie jede Regel,
so auch die hieraus folgende, zur Ausführung nach dem Geiste und
nicht nach dem Buchstaben da ist? Das konservative Prinzip be-
deutet hier nicht Verzicht auf jegliche Wertunterscheidung. Würde
z. B. an einem Gebäude aus dem 13. Jahrhundert ein bedeutsamer
Teil durch einen banalen Anbau des 18. Jahrhunderts verdeckt, so
wäre die Entfernung des letzteren nur gut zu heißen; aber nicht des-
halb, weil er aus dem 18. Jahrhundert stammt, sondern weil er
auch nach dem Maßstab seiner Entstehungszeit wertlos ist. Jeder-
mann kennt die seltsamen, nicht gotischen sondern gotisierenden,
Überreste der ehemaligen Kaufbuden an unserem Münster; sie sind
nach 1770 erbaut, noch 1850 in ihre heutige Gestalt gebracht; sie
haben keinen Denkmalswert. Ihre Entfernung könnte nur ein Ge-
winn für das Münster sein.

Restaurationen und Purifikationen haben auch noch das an
sich, daß sie Schritte sind, die nie zurückgetan werden können.
Dadurch unterscheiden sie sich von den ähnlichen Versuchen an
der literarischen Überlieferung. Wenn heute jemand zu einem frag-
mentarisch überlieferten alten Gedicht die fehlenden Stücke hinzu-
komponiert, so nötigt er doch niemanden damit, sie zu lesen; jeden-
falls wird man das Urteil über das Gedicht nicht von den Ergän-
zungen abhängig machen. Fügt aber ein Architekt einem unfertig,
turmlos auf uns gekommenen Dome die Türme aus eigener Phan-
tasie hinzu, so wird damit auch die Wirkung der echten alten Teile
unweigerlich verändert. Eine als irrig sich erweisende Konjektur

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meisterei. Man könnte die Künstler, die durch eine unverstandene
historische Bildung sich darein verstricken lassen, bemitleiden,
wären sie nicht so schädlich. Es ist nicht zu sagen, wieviel gute
alte Kunst durch den Purismus verschleudert worden ist. Und
schlimmer noch als der Untergang der einzelnen Stücke ist der
Verlust an Lebenswärme, an historischer und künstlerischer Gesamt-
stimmung, an jener Vornehmheit, die nur das Alter hat. Will man
heute echte Ensemblewirkungen sehen, so muß man sie schon in ent-
legenen Dorfkirchen aufsuchen oder in Spanien und einzelnen Teilen
Italiens, die durch ihre Armut vor den restaurierenden Pedanten
geschützt geblieben sind. Dort lernt man ihren unersetzlichen Wert
erkennen. Habe ich noch hinzuzufügen nötig, daß, wie jede Regel,
so auch die hieraus folgende, zur Ausführung nach dem Geiste und
nicht nach dem Buchstaben da ist? Das konservative Prinzip be-
deutet hier nicht Verzicht auf jegliche Wertunterscheidung. Würde
z. B. an einem Gebäude aus dem 13. Jahrhundert ein bedeutsamer
Teil durch einen banalen Anbau des 18. Jahrhunderts verdeckt, so
wäre die Entfernung des letzteren nur gut zu heißen; aber nicht des-
halb, weil er aus dem 18. Jahrhundert stammt, sondern weil er
auch nach dem Maßstab seiner Entstehungszeit wertlos ist. Jeder-
mann kennt die seltsamen, nicht gotischen sondern gotisierenden,
Überreste der ehemaligen Kaufbuden an unserem Münster; sie sind
nach 1770 erbaut, noch 1850 in ihre heutige Gestalt gebracht; sie
haben keinen Denkmalswert. Ihre Entfernung könnte nur ein Ge-
winn für das Münster sein.

Restaurationen und Purifikationen haben auch noch das an
sich, daß sie Schritte sind, die nie zurückgetan werden können.
Dadurch unterscheiden sie sich von den ähnlichen Versuchen an
der literarischen Überlieferung. Wenn heute jemand zu einem frag-
mentarisch überlieferten alten Gedicht die fehlenden Stücke hinzu-
komponiert, so nötigt er doch niemanden damit, sie zu lesen; jeden-
falls wird man das Urteil über das Gedicht nicht von den Ergän-
zungen abhängig machen. Fügt aber ein Architekt einem unfertig,
turmlos auf uns gekommenen Dome die Türme aus eigener Phan-
tasie hinzu, so wird damit auch die Wirkung der echten alten Teile
unweigerlich verändert. Eine als irrig sich erweisende Konjektur

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[278/0340] Denkmalschutz und Denkmalpflege meisterei. Man könnte die Künstler, die durch eine unverstandene historische Bildung sich darein verstricken lassen, bemitleiden, wären sie nicht so schädlich. Es ist nicht zu sagen, wieviel gute alte Kunst durch den Purismus verschleudert worden ist. Und schlimmer noch als der Untergang der einzelnen Stücke ist der Verlust an Lebenswärme, an historischer und künstlerischer Gesamt- stimmung, an jener Vornehmheit, die nur das Alter hat. Will man heute echte Ensemblewirkungen sehen, so muß man sie schon in ent- legenen Dorfkirchen aufsuchen oder in Spanien und einzelnen Teilen Italiens, die durch ihre Armut vor den restaurierenden Pedanten geschützt geblieben sind. Dort lernt man ihren unersetzlichen Wert erkennen. Habe ich noch hinzuzufügen nötig, daß, wie jede Regel, so auch die hieraus folgende, zur Ausführung nach dem Geiste und nicht nach dem Buchstaben da ist? Das konservative Prinzip be- deutet hier nicht Verzicht auf jegliche Wertunterscheidung. Würde z. B. an einem Gebäude aus dem 13. Jahrhundert ein bedeutsamer Teil durch einen banalen Anbau des 18. Jahrhunderts verdeckt, so wäre die Entfernung des letzteren nur gut zu heißen; aber nicht des- halb, weil er aus dem 18. Jahrhundert stammt, sondern weil er auch nach dem Maßstab seiner Entstehungszeit wertlos ist. Jeder- mann kennt die seltsamen, nicht gotischen sondern gotisierenden, Überreste der ehemaligen Kaufbuden an unserem Münster; sie sind nach 1770 erbaut, noch 1850 in ihre heutige Gestalt gebracht; sie haben keinen Denkmalswert. Ihre Entfernung könnte nur ein Ge- winn für das Münster sein. Restaurationen und Purifikationen haben auch noch das an sich, daß sie Schritte sind, die nie zurückgetan werden können. Dadurch unterscheiden sie sich von den ähnlichen Versuchen an der literarischen Überlieferung. Wenn heute jemand zu einem frag- mentarisch überlieferten alten Gedicht die fehlenden Stücke hinzu- komponiert, so nötigt er doch niemanden damit, sie zu lesen; jeden- falls wird man das Urteil über das Gedicht nicht von den Ergän- zungen abhängig machen. Fügt aber ein Architekt einem unfertig, turmlos auf uns gekommenen Dome die Türme aus eigener Phan- tasie hinzu, so wird damit auch die Wirkung der echten alten Teile unweigerlich verändert. Eine als irrig sich erweisende Konjektur

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/340>, abgerufen am 24.11.2024.