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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl
als vorbereitende Studie festgehalten werden sollte, der über
alle Massen seltsame Fall gegeben sein, daß Lionardo in den
Körpern und Gewändern alles bis auf die letzte Linie festgestellt
hätte, bevor er sich an die Ausarbeitung der Köpfe machte. Dann
aber wird es von der andern Seite wieder unverständlich, wozu er
die für diesen Zweck ganz gleichgültigen Nebendinge noch
einmal in aller Ausführlichkeit wiederholte. Selbstverständlich
gelten diese gegen die Originalität von W gerichteten Erwägungen
ganz ebenso gegen St. So arbeitet nicht der schöpfende Künstler,
so arbeitet nur der Kopist. Wie man weiß, sind alsbald nach
Vollendung des Abendmahls in S. Maria delle Grazie Nachbil-
dungen in Menge entstanden, darunter Wandgemälde von einer
dem Original sich nähernden Größe. Zu ihrer Ausführung brauchte
der Kopist, mindestens für die Köpfe, Reproduktionen großen
Maßstabes, während er für die Komposition im ganzen sich mit
einem kleinen Hilfskarton begnügt haben mag. Dagegen ist es
ganz unwahrscheinlich, daß Lionardo seine Gedankenentwicklung
im Karton abgeschlossen hätte; wäre das der Fall gewesen, wäre
für die Ausführung an der Wand nichts mehr nötig gewesen, als
den Karton abzuschreiben -- wie die Verteidiger der Authentizität
von W implicite behaupten --, dann wäre die Langsamkeit
der Ausführung kaum zu begreifen. Alle auf die Entstehung des
Abendmahls sich beziehenden Erzählungen haben aber den über-
einstimmenden Sinn, daß Lionardo eben deshalb so stockend und
sprungweise vorging, weil er mit der inneren Arbeit, an den Cha-
rakteren, nicht fertig war, und dieses wird auch mit ein Grund
für die Wahl der Öltechnik gewesen sein, die ihm gestattete, die
Malerei beliebig zu unterbrechen und wieder aufzunehmen. Der
beiläufigen Bemerkung Lomazzos: ".... fu molto usato (il colo-
rire a pastello) da Lionardo Vinci, il quale fece le teste di Cristo
e degli Apostoli a questo modo eccellenti e miraculose, in carta"
-- kann ich großes Gewicht nicht zugestehen. Aus ihr folgt
nicht mehr, als daß um das Jahr 1585, als Lomazzo schrieb,
mithin fast 100 Jahre nach der Entstehung von Lionardos
Gemälde, es Blätter dieser Art gab, die Lionardo zugeschrieben
wurden.


Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl
als vorbereitende Studie festgehalten werden sollte, der über
alle Massen seltsame Fall gegeben sein, daß Lionardo in den
Körpern und Gewändern alles bis auf die letzte Linie festgestellt
hätte, bevor er sich an die Ausarbeitung der Köpfe machte. Dann
aber wird es von der andern Seite wieder unverständlich, wozu er
die für diesen Zweck ganz gleichgültigen Nebendinge noch
einmal in aller Ausführlichkeit wiederholte. Selbstverständlich
gelten diese gegen die Originalität von W gerichteten Erwägungen
ganz ebenso gegen St. So arbeitet nicht der schöpfende Künstler,
so arbeitet nur der Kopist. Wie man weiß, sind alsbald nach
Vollendung des Abendmahls in S. Maria delle Grazie Nachbil-
dungen in Menge entstanden, darunter Wandgemälde von einer
dem Original sich nähernden Größe. Zu ihrer Ausführung brauchte
der Kopist, mindestens für die Köpfe, Reproduktionen großen
Maßstabes, während er für die Komposition im ganzen sich mit
einem kleinen Hilfskarton begnügt haben mag. Dagegen ist es
ganz unwahrscheinlich, daß Lionardo seine Gedankenentwicklung
im Karton abgeschlossen hätte; wäre das der Fall gewesen, wäre
für die Ausführung an der Wand nichts mehr nötig gewesen, als
den Karton abzuschreiben — wie die Verteidiger der Authentizität
von W implicite behaupten —, dann wäre die Langsamkeit
der Ausführung kaum zu begreifen. Alle auf die Entstehung des
Abendmahls sich beziehenden Erzählungen haben aber den über-
einstimmenden Sinn, daß Lionardo eben deshalb so stockend und
sprungweise vorging, weil er mit der inneren Arbeit, an den Cha-
rakteren, nicht fertig war, und dieses wird auch mit ein Grund
für die Wahl der Öltechnik gewesen sein, die ihm gestattete, die
Malerei beliebig zu unterbrechen und wieder aufzunehmen. Der
beiläufigen Bemerkung Lomazzos: ».... fu molto usato (il colo-
rire a pastello) da Lionardo Vinci, il quale fece le teste di Cristo
e degli Apostoli a questo modo eccellenti e miraculose, in carta«
— kann ich großes Gewicht nicht zugestehen. Aus ihr folgt
nicht mehr, als daß um das Jahr 1585, als Lomazzo schrieb,
mithin fast 100 Jahre nach der Entstehung von Lionardos
Gemälde, es Blätter dieser Art gab, die Lionardo zugeschrieben
wurden.

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[192/0234] Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl als vorbereitende Studie festgehalten werden sollte, der über alle Massen seltsame Fall gegeben sein, daß Lionardo in den Körpern und Gewändern alles bis auf die letzte Linie festgestellt hätte, bevor er sich an die Ausarbeitung der Köpfe machte. Dann aber wird es von der andern Seite wieder unverständlich, wozu er die für diesen Zweck ganz gleichgültigen Nebendinge noch einmal in aller Ausführlichkeit wiederholte. Selbstverständlich gelten diese gegen die Originalität von W gerichteten Erwägungen ganz ebenso gegen St. So arbeitet nicht der schöpfende Künstler, so arbeitet nur der Kopist. Wie man weiß, sind alsbald nach Vollendung des Abendmahls in S. Maria delle Grazie Nachbil- dungen in Menge entstanden, darunter Wandgemälde von einer dem Original sich nähernden Größe. Zu ihrer Ausführung brauchte der Kopist, mindestens für die Köpfe, Reproduktionen großen Maßstabes, während er für die Komposition im ganzen sich mit einem kleinen Hilfskarton begnügt haben mag. Dagegen ist es ganz unwahrscheinlich, daß Lionardo seine Gedankenentwicklung im Karton abgeschlossen hätte; wäre das der Fall gewesen, wäre für die Ausführung an der Wand nichts mehr nötig gewesen, als den Karton abzuschreiben — wie die Verteidiger der Authentizität von W implicite behaupten —, dann wäre die Langsamkeit der Ausführung kaum zu begreifen. Alle auf die Entstehung des Abendmahls sich beziehenden Erzählungen haben aber den über- einstimmenden Sinn, daß Lionardo eben deshalb so stockend und sprungweise vorging, weil er mit der inneren Arbeit, an den Cha- rakteren, nicht fertig war, und dieses wird auch mit ein Grund für die Wahl der Öltechnik gewesen sein, die ihm gestattete, die Malerei beliebig zu unterbrechen und wieder aufzunehmen. Der beiläufigen Bemerkung Lomazzos: ».... fu molto usato (il colo- rire a pastello) da Lionardo Vinci, il quale fece le teste di Cristo e degli Apostoli a questo modo eccellenti e miraculose, in carta« — kann ich großes Gewicht nicht zugestehen. Aus ihr folgt nicht mehr, als daß um das Jahr 1585, als Lomazzo schrieb, mithin fast 100 Jahre nach der Entstehung von Lionardos Gemälde, es Blätter dieser Art gab, die Lionardo zugeschrieben wurden.

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/234>, abgerufen am 04.05.2024.