Wende ich mich nun zu W, so ist der erste und allgemeinste Eindruck zwar ähnlich, aber die Ausführung im einzelnen doch erheblich verschieden. Zuerst ist das Zeichenmaterial ein anderes, nicht Kohle, sondern eine gröbere, schwärzere Substanz, Kreide allem Anschein nach. Von einem in flüssiger Farbe, wie bei St, gemalten Grunde habe ich nichts entdecken können, vielmehr sind die Farbennuancen ebenfalls mit Stiften hervorgerufen. Der Unterschied zwischen dem leichteren, kühleren Fleischton der jugendlichen Personen und der gebräunten Haut der alten kommt in W härter heraus als in St. Die Umrisse sind derber und zugleich unsicherer, die Modellierungsflächen nicht in ge- sonderten Strichen hingesetzt, sondern massig verrieben. Ein malerischer Effekt und eine Art von flotter Eleganz ist angestrebt, die beide Lionardo und seiner Zeit fremd sind. An einigen Stellen wollte es mir scheinen, als schimmerten unter der Kreide Spuren einer älteren Kohlezeichnung durch; bis zur Gewißheit habe ich diese Beobachtung jedoch nicht gebracht. Ich bemerke noch, daß ich die Weimarer Blätter nicht etwa im Vorübergehen, sondern in aller Ruhe und Gründlichkeit betrachtet habe, unmittelbar vom Studium der Straßburger kommend und dazu zurückkehrend. Der technische Befund läßt für mich nur zwei Möglichkeiten zu: entweder ist W eine Kopie, gleich St, jedoch aus bedeutend jüngerer Zeit, oder -- weniger wahrscheinlich -- die ausgedehnte und systematische Überarbeitung einer nicht mehr zu beurteilenden Unterlage.
Aber ich weiß wohl, daß auch die Kunstforscher von Beruf von der Geltung des Satzes noch nicht ausgeschlossen sind: wenn zwei das gleiche sehen, so sehen sie es nicht immer gleich. Ich werde mich deshalb um "objektivere" Beweismittel bemühen müssen. Schon von andern ist hervorgehoben worden, daß auf mehreren Blättern von W Bruchstücke der Umgebung, der Kopfumriß und die übergreifende Hand des Nachbars mitgezeichnet sind, was durchaus für eine Kopie nach der fertigen und nicht für eine Studie nach der noch im Fluß begriffenen Komposition spreche; ich füge hinzu: daß überall auch die Gewandfalten genau so liegen wie auf dem Gemälde. Es müßte also, wenn die Deutung von W
Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl
Wende ich mich nun zu W, so ist der erste und allgemeinste Eindruck zwar ähnlich, aber die Ausführung im einzelnen doch erheblich verschieden. Zuerst ist das Zeichenmaterial ein anderes, nicht Kohle, sondern eine gröbere, schwärzere Substanz, Kreide allem Anschein nach. Von einem in flüssiger Farbe, wie bei St, gemalten Grunde habe ich nichts entdecken können, vielmehr sind die Farbennuancen ebenfalls mit Stiften hervorgerufen. Der Unterschied zwischen dem leichteren, kühleren Fleischton der jugendlichen Personen und der gebräunten Haut der alten kommt in W härter heraus als in St. Die Umrisse sind derber und zugleich unsicherer, die Modellierungsflächen nicht in ge- sonderten Strichen hingesetzt, sondern massig verrieben. Ein malerischer Effekt und eine Art von flotter Eleganz ist angestrebt, die beide Lionardo und seiner Zeit fremd sind. An einigen Stellen wollte es mir scheinen, als schimmerten unter der Kreide Spuren einer älteren Kohlezeichnung durch; bis zur Gewißheit habe ich diese Beobachtung jedoch nicht gebracht. Ich bemerke noch, daß ich die Weimarer Blätter nicht etwa im Vorübergehen, sondern in aller Ruhe und Gründlichkeit betrachtet habe, unmittelbar vom Studium der Straßburger kommend und dazu zurückkehrend. Der technische Befund läßt für mich nur zwei Möglichkeiten zu: entweder ist W eine Kopie, gleich St, jedoch aus bedeutend jüngerer Zeit, oder — weniger wahrscheinlich — die ausgedehnte und systematische Überarbeitung einer nicht mehr zu beurteilenden Unterlage.
Aber ich weiß wohl, daß auch die Kunstforscher von Beruf von der Geltung des Satzes noch nicht ausgeschlossen sind: wenn zwei das gleiche sehen, so sehen sie es nicht immer gleich. Ich werde mich deshalb um »objektivere« Beweismittel bemühen müssen. Schon von andern ist hervorgehoben worden, daß auf mehreren Blättern von W Bruchstücke der Umgebung, der Kopfumriß und die übergreifende Hand des Nachbars mitgezeichnet sind, was durchaus für eine Kopie nach der fertigen und nicht für eine Studie nach der noch im Fluß begriffenen Komposition spreche; ich füge hinzu: daß überall auch die Gewandfalten genau so liegen wie auf dem Gemälde. Es müßte also, wenn die Deutung von W
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[191/0233]
Zu den Kopien nach Lionardos Abendmahl
Wende ich mich nun zu W, so ist der erste und allgemeinste
Eindruck zwar ähnlich, aber die Ausführung im einzelnen doch
erheblich verschieden. Zuerst ist das Zeichenmaterial ein anderes,
nicht Kohle, sondern eine gröbere, schwärzere Substanz, Kreide
allem Anschein nach. Von einem in flüssiger Farbe, wie bei St,
gemalten Grunde habe ich nichts entdecken können, vielmehr
sind die Farbennuancen ebenfalls mit Stiften hervorgerufen.
Der Unterschied zwischen dem leichteren, kühleren Fleischton
der jugendlichen Personen und der gebräunten Haut der alten
kommt in W härter heraus als in St. Die Umrisse sind derber
und zugleich unsicherer, die Modellierungsflächen nicht in ge-
sonderten Strichen hingesetzt, sondern massig verrieben. Ein
malerischer Effekt und eine Art von flotter Eleganz ist angestrebt,
die beide Lionardo und seiner Zeit fremd sind. An einigen Stellen
wollte es mir scheinen, als schimmerten unter der Kreide Spuren
einer älteren Kohlezeichnung durch; bis zur Gewißheit habe ich
diese Beobachtung jedoch nicht gebracht. Ich bemerke noch,
daß ich die Weimarer Blätter nicht etwa im Vorübergehen, sondern
in aller Ruhe und Gründlichkeit betrachtet habe, unmittelbar
vom Studium der Straßburger kommend und dazu zurückkehrend.
Der technische Befund läßt für mich nur zwei Möglichkeiten zu:
entweder ist W eine Kopie, gleich St, jedoch aus bedeutend jüngerer
Zeit, oder — weniger wahrscheinlich — die ausgedehnte und
systematische Überarbeitung einer nicht mehr zu beurteilenden
Unterlage.
Aber ich weiß wohl, daß auch die Kunstforscher von Beruf
von der Geltung des Satzes noch nicht ausgeschlossen sind: wenn
zwei das gleiche sehen, so sehen sie es nicht immer gleich. Ich
werde mich deshalb um »objektivere« Beweismittel bemühen müssen.
Schon von andern ist hervorgehoben worden, daß auf mehreren
Blättern von W Bruchstücke der Umgebung, der Kopfumriß
und die übergreifende Hand des Nachbars mitgezeichnet sind,
was durchaus für eine Kopie nach der fertigen und nicht für eine
Studie nach der noch im Fluß begriffenen Komposition spreche;
ich füge hinzu: daß überall auch die Gewandfalten genau so liegen
wie auf dem Gemälde. Es müßte also, wenn die Deutung von W
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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/233>, abgerufen am 22.11.2024.
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