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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert

War etwa in dem Augenblick, wo sie von diesen zwei Gegnern
in die Mitte genommen wurde, die deutsche Kunst gealtert, de-
generiert, innerlich unsicher und hilfebedürftig? Sie war es nicht.
Und so war es auch die Sendung und Leistung der Renaissance
nicht, die nordische Welt etwa von abgelebten Resten mittel-
alterlicher Kunst zu befreien, wie man es lange sich vorgestellt
hat. Diese Auffassung wäre nur im Recht, wenn die Renaissance
die einzige und allein gültige künstlerische Ausdrucksform für den
Menschen der Neuzeit wäre. So ist es aber nicht. Allzulange
hat die bequeme Schematisierung der Kunstgeschichte nach kon-
ventionellen Stilnamen den Weg zur Einsicht in die Sache ver-
sperrt. Die Wahrheit ist: so wenig die italienische Kunst am Be-
ginn der Neuzeit bloß Wiedergeburt der Antike ist, so wenig ist
die nordische derselben Zeit bloßes Fortdauern einer gealterten
Gotik. Heute, nachdem wir gelernt haben, Namen und Sache,
Formalismus und Form, besser zu scheiden, sehen wir in der spät-
gotischen -- wir müssen nun schon sagen: sog. spätgotischen --
Baukunst eine tiefgreifende Umwertung des Überlieferten. Man
denke dann in der Bildhauerkunst an Erscheinungen wie Veit
Stoß oder Hans Backofen oder den Meister des Isenheimer Altars;
in der Malerei und Graphik an Grünewald und den jungen Dürer
-- hier ist in Klarheit und Kraft ein neues Wollen auf dem Plan,
das mit der klassischen Gotik nichts mehr zu tun hat, ebensowenig
aber auch der Renaissance geistesverwandt ist. Daß dieser aus
der sich auflösenden Gotik selbstbewußt und lebenskräftig empor-
steigende neue Stil ohne Namen geblieben ist, darf uns nicht irre-
machen. Suchen wir nach inneren Analogien, so finden wir sie
am meisten in dem, was wir im 17. Jahrhundert Barockstil nennen1).
Ob nun der Name Frühbarock sich einbürgern wird oder nicht,
die Tatsache wird immer deutlicher, daß nach dem Schluß des
Mittelalters die Verjüngung der Kunst kein Privilegium Italiens
war, vielmehr einen doppelten Ursprung hatte. Das Leben der
europäischen Völker war zu reich geworden, zu komplex in der
Verschlingung alter Traditionen mit neuem Ausdrucksverlangen,

1) Vgl. den Aufsatz über den Meister des Gemmingendenkmals.
Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert

War etwa in dem Augenblick, wo sie von diesen zwei Gegnern
in die Mitte genommen wurde, die deutsche Kunst gealtert, de-
generiert, innerlich unsicher und hilfebedürftig? Sie war es nicht.
Und so war es auch die Sendung und Leistung der Renaissance
nicht, die nordische Welt etwa von abgelebten Resten mittel-
alterlicher Kunst zu befreien, wie man es lange sich vorgestellt
hat. Diese Auffassung wäre nur im Recht, wenn die Renaissance
die einzige und allein gültige künstlerische Ausdrucksform für den
Menschen der Neuzeit wäre. So ist es aber nicht. Allzulange
hat die bequeme Schematisierung der Kunstgeschichte nach kon-
ventionellen Stilnamen den Weg zur Einsicht in die Sache ver-
sperrt. Die Wahrheit ist: so wenig die italienische Kunst am Be-
ginn der Neuzeit bloß Wiedergeburt der Antike ist, so wenig ist
die nordische derselben Zeit bloßes Fortdauern einer gealterten
Gotik. Heute, nachdem wir gelernt haben, Namen und Sache,
Formalismus und Form, besser zu scheiden, sehen wir in der spät-
gotischen — wir müssen nun schon sagen: sog. spätgotischen —
Baukunst eine tiefgreifende Umwertung des Überlieferten. Man
denke dann in der Bildhauerkunst an Erscheinungen wie Veit
Stoß oder Hans Backofen oder den Meister des Isenheimer Altars;
in der Malerei und Graphik an Grünewald und den jungen Dürer
— hier ist in Klarheit und Kraft ein neues Wollen auf dem Plan,
das mit der klassischen Gotik nichts mehr zu tun hat, ebensowenig
aber auch der Renaissance geistesverwandt ist. Daß dieser aus
der sich auflösenden Gotik selbstbewußt und lebenskräftig empor-
steigende neue Stil ohne Namen geblieben ist, darf uns nicht irre-
machen. Suchen wir nach inneren Analogien, so finden wir sie
am meisten in dem, was wir im 17. Jahrhundert Barockstil nennen1).
Ob nun der Name Frühbarock sich einbürgern wird oder nicht,
die Tatsache wird immer deutlicher, daß nach dem Schluß des
Mittelalters die Verjüngung der Kunst kein Privilegium Italiens
war, vielmehr einen doppelten Ursprung hatte. Das Leben der
europäischen Völker war zu reich geworden, zu komplex in der
Verschlingung alter Traditionen mit neuem Ausdrucksverlangen,

1) Vgl. den Aufsatz über den Meister des Gemmingendenkmals.
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[159/0201] Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert War etwa in dem Augenblick, wo sie von diesen zwei Gegnern in die Mitte genommen wurde, die deutsche Kunst gealtert, de- generiert, innerlich unsicher und hilfebedürftig? Sie war es nicht. Und so war es auch die Sendung und Leistung der Renaissance nicht, die nordische Welt etwa von abgelebten Resten mittel- alterlicher Kunst zu befreien, wie man es lange sich vorgestellt hat. Diese Auffassung wäre nur im Recht, wenn die Renaissance die einzige und allein gültige künstlerische Ausdrucksform für den Menschen der Neuzeit wäre. So ist es aber nicht. Allzulange hat die bequeme Schematisierung der Kunstgeschichte nach kon- ventionellen Stilnamen den Weg zur Einsicht in die Sache ver- sperrt. Die Wahrheit ist: so wenig die italienische Kunst am Be- ginn der Neuzeit bloß Wiedergeburt der Antike ist, so wenig ist die nordische derselben Zeit bloßes Fortdauern einer gealterten Gotik. Heute, nachdem wir gelernt haben, Namen und Sache, Formalismus und Form, besser zu scheiden, sehen wir in der spät- gotischen — wir müssen nun schon sagen: sog. spätgotischen — Baukunst eine tiefgreifende Umwertung des Überlieferten. Man denke dann in der Bildhauerkunst an Erscheinungen wie Veit Stoß oder Hans Backofen oder den Meister des Isenheimer Altars; in der Malerei und Graphik an Grünewald und den jungen Dürer — hier ist in Klarheit und Kraft ein neues Wollen auf dem Plan, das mit der klassischen Gotik nichts mehr zu tun hat, ebensowenig aber auch der Renaissance geistesverwandt ist. Daß dieser aus der sich auflösenden Gotik selbstbewußt und lebenskräftig empor- steigende neue Stil ohne Namen geblieben ist, darf uns nicht irre- machen. Suchen wir nach inneren Analogien, so finden wir sie am meisten in dem, was wir im 17. Jahrhundert Barockstil nennen 1). Ob nun der Name Frühbarock sich einbürgern wird oder nicht, die Tatsache wird immer deutlicher, daß nach dem Schluß des Mittelalters die Verjüngung der Kunst kein Privilegium Italiens war, vielmehr einen doppelten Ursprung hatte. Das Leben der europäischen Völker war zu reich geworden, zu komplex in der Verschlingung alter Traditionen mit neuem Ausdrucksverlangen, 1) Vgl. den Aufsatz über den Meister des Gemmingendenkmals.

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/201>, abgerufen am 25.11.2024.