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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
als daß es noch einen Einheitsstil, wie im Mittelalter die Gotik
es gewesen war, hätte hervorbringen können. Die Größe und
Fülle der neuzeitlichen Kunst Europas beruht auf der Spannung
zweier verschieden gestimmter Grundkräfte, deren Entwicklungs-
linien zuweilen getrennt verlaufen, öfter sich überschneiden und
mischen, niemals ihren Sonderwert ganz aufgeben. Es ist ein
Spiel und Gegenspiel des Klassischen und Barocken, des Klas-
sischen und Romantischen, wenn man diesen Namen vorziehen
will; noch unsere letzte Vergangenheit im 19. Jahrhundert steht
deutlich unter diesem Zeichen. Im 16. Jahrhundert hat es in Deutsch-
land wohl nur einen einzigen Künstler gegeben, der den Konflikt
in seiner ganzen Tiefe empfand und mit höchster seelischer An-
strengung für seine Person zu harmonischem Austrag zu bringen
trachtete: Albrecht Dürer. Nichts Ergreifenderes als sein Ringen
nach der Wahrheit. Zugleich aber werden wir uns gestehen müssen,
daß diesem Mann, der zugleich ein Künstler und ein Denker
sein wollte, darüber ein gut Teil von Unmittelbarkeit des Emp-
findens verloren ging. Wir Deutschen haben eine Erbeigenschaft,
die sich nur mit negativem Ausdruck bezeichnen läßt: die Form-
losigkeit. Von Zeit zu Zeit ergreift uns die Sehnsucht, aus dem
Dämmernden, Verworrenen, Unnennbaren, Überschwenglichen uns
zu retten ins Helle und fest Begrenzte, in die Form. Dann wen-
den wir uns zum ewigen Schatzbehalter reiner Form, zur Antike.
Sehr oft aber verwirrt uns ihr Anblick aufs neue, und wir ver-
wechseln Form und Formalismus. So ist es der Generation
nach Dürer geschehen. Auf Grund dessen, was Dürer am Ende
seines Lebens erreicht hatte, hätte eine neue Kunst entstehen
können, die zugleich Renaissance und deutsch gewesen wäre. Was
wirklich kam, war nur halb Renaissance und zugleich nur halb
deutsch. Die Epigonen Dürers begriffen nur unvollkommen, was
die Renaissance eigentlich von ihnen verlangte: daß sie einen
ganz neuen Menschen anzögen. Sie begnügten sich mit einem
oberflächlichen Kompromiß, sie verstanden an der Renaissance
nicht die Form, nur den Formalismus. Es ist überhaupt fraglich,
ob die Renaissance, wäre sie auf das Gebiet der Kunst beschränkt
geblieben, es im damaligen Deutschland, wo sie auf so starke

Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
als daß es noch einen Einheitsstil, wie im Mittelalter die Gotik
es gewesen war, hätte hervorbringen können. Die Größe und
Fülle der neuzeitlichen Kunst Europas beruht auf der Spannung
zweier verschieden gestimmter Grundkräfte, deren Entwicklungs-
linien zuweilen getrennt verlaufen, öfter sich überschneiden und
mischen, niemals ihren Sonderwert ganz aufgeben. Es ist ein
Spiel und Gegenspiel des Klassischen und Barocken, des Klas-
sischen und Romantischen, wenn man diesen Namen vorziehen
will; noch unsere letzte Vergangenheit im 19. Jahrhundert steht
deutlich unter diesem Zeichen. Im 16. Jahrhundert hat es in Deutsch-
land wohl nur einen einzigen Künstler gegeben, der den Konflikt
in seiner ganzen Tiefe empfand und mit höchster seelischer An-
strengung für seine Person zu harmonischem Austrag zu bringen
trachtete: Albrecht Dürer. Nichts Ergreifenderes als sein Ringen
nach der Wahrheit. Zugleich aber werden wir uns gestehen müssen,
daß diesem Mann, der zugleich ein Künstler und ein Denker
sein wollte, darüber ein gut Teil von Unmittelbarkeit des Emp-
findens verloren ging. Wir Deutschen haben eine Erbeigenschaft,
die sich nur mit negativem Ausdruck bezeichnen läßt: die Form-
losigkeit. Von Zeit zu Zeit ergreift uns die Sehnsucht, aus dem
Dämmernden, Verworrenen, Unnennbaren, Überschwenglichen uns
zu retten ins Helle und fest Begrenzte, in die Form. Dann wen-
den wir uns zum ewigen Schatzbehalter reiner Form, zur Antike.
Sehr oft aber verwirrt uns ihr Anblick aufs neue, und wir ver-
wechseln Form und Formalismus. So ist es der Generation
nach Dürer geschehen. Auf Grund dessen, was Dürer am Ende
seines Lebens erreicht hatte, hätte eine neue Kunst entstehen
können, die zugleich Renaissance und deutsch gewesen wäre. Was
wirklich kam, war nur halb Renaissance und zugleich nur halb
deutsch. Die Epigonen Dürers begriffen nur unvollkommen, was
die Renaissance eigentlich von ihnen verlangte: daß sie einen
ganz neuen Menschen anzögen. Sie begnügten sich mit einem
oberflächlichen Kompromiß, sie verstanden an der Renaissance
nicht die Form, nur den Formalismus. Es ist überhaupt fraglich,
ob die Renaissance, wäre sie auf das Gebiet der Kunst beschränkt
geblieben, es im damaligen Deutschland, wo sie auf so starke

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[160/0202] Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert als daß es noch einen Einheitsstil, wie im Mittelalter die Gotik es gewesen war, hätte hervorbringen können. Die Größe und Fülle der neuzeitlichen Kunst Europas beruht auf der Spannung zweier verschieden gestimmter Grundkräfte, deren Entwicklungs- linien zuweilen getrennt verlaufen, öfter sich überschneiden und mischen, niemals ihren Sonderwert ganz aufgeben. Es ist ein Spiel und Gegenspiel des Klassischen und Barocken, des Klas- sischen und Romantischen, wenn man diesen Namen vorziehen will; noch unsere letzte Vergangenheit im 19. Jahrhundert steht deutlich unter diesem Zeichen. Im 16. Jahrhundert hat es in Deutsch- land wohl nur einen einzigen Künstler gegeben, der den Konflikt in seiner ganzen Tiefe empfand und mit höchster seelischer An- strengung für seine Person zu harmonischem Austrag zu bringen trachtete: Albrecht Dürer. Nichts Ergreifenderes als sein Ringen nach der Wahrheit. Zugleich aber werden wir uns gestehen müssen, daß diesem Mann, der zugleich ein Künstler und ein Denker sein wollte, darüber ein gut Teil von Unmittelbarkeit des Emp- findens verloren ging. Wir Deutschen haben eine Erbeigenschaft, die sich nur mit negativem Ausdruck bezeichnen läßt: die Form- losigkeit. Von Zeit zu Zeit ergreift uns die Sehnsucht, aus dem Dämmernden, Verworrenen, Unnennbaren, Überschwenglichen uns zu retten ins Helle und fest Begrenzte, in die Form. Dann wen- den wir uns zum ewigen Schatzbehalter reiner Form, zur Antike. Sehr oft aber verwirrt uns ihr Anblick aufs neue, und wir ver- wechseln Form und Formalismus. So ist es der Generation nach Dürer geschehen. Auf Grund dessen, was Dürer am Ende seines Lebens erreicht hatte, hätte eine neue Kunst entstehen können, die zugleich Renaissance und deutsch gewesen wäre. Was wirklich kam, war nur halb Renaissance und zugleich nur halb deutsch. Die Epigonen Dürers begriffen nur unvollkommen, was die Renaissance eigentlich von ihnen verlangte: daß sie einen ganz neuen Menschen anzögen. Sie begnügten sich mit einem oberflächlichen Kompromiß, sie verstanden an der Renaissance nicht die Form, nur den Formalismus. Es ist überhaupt fraglich, ob die Renaissance, wäre sie auf das Gebiet der Kunst beschränkt geblieben, es im damaligen Deutschland, wo sie auf so starke

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/202>, abgerufen am 25.11.2024.