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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
tern. So sage ich: Albrecht Dürer steht im Grunde seines Emp-
findens Sebastian Bach sehr viel näher als nach der anderen Rich-
tung dem Mittelalter, Dürer ist mehr als bloß ein Vorbote, schon
ein Vollbürger der Reformation. Wäre der reformatorischen Be-
wegung, wie es in einem kurzen Augenblick wohl scheinen konnte,
im ganzen ungeteilten Deutschland der Sieg zugefallen, so wären
die Folgen für die bildende Kunst wahrscheinlich sehr andere
und glücklichere geworden. Die Spaltung brachte aber den Kampf,
und der Kampf trieb einseitig eben in die Richtungen, die von
der bildenden Kunst wegführten.



Würde ich meine Betrachtung schon hier schließen, so würde
ein schiefes Bild zurückbleiben. Die Krisis der deutschen Kunst
im 16. Jahrhundert war eine Doppelkrisis. Um dieselbe
Zeit, als die Kunst durch die Kirchenreform einer der wichtigsten
ihrer alten Grundlagen verlustig ging, drang von Italien und bald
auch von den Niederlanden die große Welle der Renaissance vor,
von einem anderen Angriffspunkte aus, dem künstlerisch-formalen,
das historisch entwickelte Kunstwollen an sich selbst irre machend
und erschütternd. Die begeisterte Parteinahme für die Renaissance
in unseren Tagen ließ diese Dazwischenkunft fast nur als eine
glückbringende ansehen. Man vergaß dabei dasselbe, was schon
das 16. Jahrhundert selbst nicht richtig erfaßt hatte, nämlich
daß die Renaissance nicht gleich Antike, sondern eine spezifisch
italienische, also national gebundene Kunst ist. So kam zu dem
einen Zwiespalt jetzt noch ein zweiter hinzu. Die Renaissance
trat in Gegensatz zu der deutschen Kunstüberlieferung und die
Reformation in Gegensatz zu beiden. Denn es ist ein Irrtum,
daß Renaissance und Reformation gleichsam Geschwister gewesen
seien. Praktisch waren sie in manchen Momenten Bundesgenossen,
aber innerlich einander fremd, aus gänzlich verschiedenen Ent-
wicklungsreihen hervorgegangen. So entstand eine höchst ver-
worrene und gefährliche Komplikation. Die herkömmliche Auf-
fassung der Kunstgeschichte hat ihre Bedeutung bei weitem noch
nicht richtig eingeschätzt.

Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
tern. So sage ich: Albrecht Dürer steht im Grunde seines Emp-
findens Sebastian Bach sehr viel näher als nach der anderen Rich-
tung dem Mittelalter, Dürer ist mehr als bloß ein Vorbote, schon
ein Vollbürger der Reformation. Wäre der reformatorischen Be-
wegung, wie es in einem kurzen Augenblick wohl scheinen konnte,
im ganzen ungeteilten Deutschland der Sieg zugefallen, so wären
die Folgen für die bildende Kunst wahrscheinlich sehr andere
und glücklichere geworden. Die Spaltung brachte aber den Kampf,
und der Kampf trieb einseitig eben in die Richtungen, die von
der bildenden Kunst wegführten.



Würde ich meine Betrachtung schon hier schließen, so würde
ein schiefes Bild zurückbleiben. Die Krisis der deutschen Kunst
im 16. Jahrhundert war eine Doppelkrisis. Um dieselbe
Zeit, als die Kunst durch die Kirchenreform einer der wichtigsten
ihrer alten Grundlagen verlustig ging, drang von Italien und bald
auch von den Niederlanden die große Welle der Renaissance vor,
von einem anderen Angriffspunkte aus, dem künstlerisch-formalen,
das historisch entwickelte Kunstwollen an sich selbst irre machend
und erschütternd. Die begeisterte Parteinahme für die Renaissance
in unseren Tagen ließ diese Dazwischenkunft fast nur als eine
glückbringende ansehen. Man vergaß dabei dasselbe, was schon
das 16. Jahrhundert selbst nicht richtig erfaßt hatte, nämlich
daß die Renaissance nicht gleich Antike, sondern eine spezifisch
italienische, also national gebundene Kunst ist. So kam zu dem
einen Zwiespalt jetzt noch ein zweiter hinzu. Die Renaissance
trat in Gegensatz zu der deutschen Kunstüberlieferung und die
Reformation in Gegensatz zu beiden. Denn es ist ein Irrtum,
daß Renaissance und Reformation gleichsam Geschwister gewesen
seien. Praktisch waren sie in manchen Momenten Bundesgenossen,
aber innerlich einander fremd, aus gänzlich verschiedenen Ent-
wicklungsreihen hervorgegangen. So entstand eine höchst ver-
worrene und gefährliche Komplikation. Die herkömmliche Auf-
fassung der Kunstgeschichte hat ihre Bedeutung bei weitem noch
nicht richtig eingeschätzt.

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[158/0200] Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert tern. So sage ich: Albrecht Dürer steht im Grunde seines Emp- findens Sebastian Bach sehr viel näher als nach der anderen Rich- tung dem Mittelalter, Dürer ist mehr als bloß ein Vorbote, schon ein Vollbürger der Reformation. Wäre der reformatorischen Be- wegung, wie es in einem kurzen Augenblick wohl scheinen konnte, im ganzen ungeteilten Deutschland der Sieg zugefallen, so wären die Folgen für die bildende Kunst wahrscheinlich sehr andere und glücklichere geworden. Die Spaltung brachte aber den Kampf, und der Kampf trieb einseitig eben in die Richtungen, die von der bildenden Kunst wegführten. Würde ich meine Betrachtung schon hier schließen, so würde ein schiefes Bild zurückbleiben. Die Krisis der deutschen Kunst im 16. Jahrhundert war eine Doppelkrisis. Um dieselbe Zeit, als die Kunst durch die Kirchenreform einer der wichtigsten ihrer alten Grundlagen verlustig ging, drang von Italien und bald auch von den Niederlanden die große Welle der Renaissance vor, von einem anderen Angriffspunkte aus, dem künstlerisch-formalen, das historisch entwickelte Kunstwollen an sich selbst irre machend und erschütternd. Die begeisterte Parteinahme für die Renaissance in unseren Tagen ließ diese Dazwischenkunft fast nur als eine glückbringende ansehen. Man vergaß dabei dasselbe, was schon das 16. Jahrhundert selbst nicht richtig erfaßt hatte, nämlich daß die Renaissance nicht gleich Antike, sondern eine spezifisch italienische, also national gebundene Kunst ist. So kam zu dem einen Zwiespalt jetzt noch ein zweiter hinzu. Die Renaissance trat in Gegensatz zu der deutschen Kunstüberlieferung und die Reformation in Gegensatz zu beiden. Denn es ist ein Irrtum, daß Renaissance und Reformation gleichsam Geschwister gewesen seien. Praktisch waren sie in manchen Momenten Bundesgenossen, aber innerlich einander fremd, aus gänzlich verschiedenen Ent- wicklungsreihen hervorgegangen. So entstand eine höchst ver- worrene und gefährliche Komplikation. Die herkömmliche Auf- fassung der Kunstgeschichte hat ihre Bedeutung bei weitem noch nicht richtig eingeschätzt.

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/200>, abgerufen am 22.11.2024.