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Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914.

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Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
errichtet wurde -- allerdings nicht von einem Deutschen, sondern
von einem verwelschten Niederländer --, entstand in Norddeutsch-
land die nach ihrem wahren und hohen Wert zu wenig erst bei
uns bekannte Wolfenbütteler Marienkirche Paul Frankes, der
Münchener Jesuitenkirche künstlerisch ebenbürtig und viel ori-
gineller, besonders genetisch viel deutscher. Daß sie keinen Nach-
wuchs fand, dafür liegen die Gründe wieder nicht in der Kunst-
entwicklung an sich, noch auch in der Religion, sondern in den
allgemeinen Verhältnissen.

Alles in allem: es ist eine unbestreitbare Tatsache, die Refor-
mation und ihre Folgeerscheinungen haben der bildenden Kunst
sehr wenig neue Lebenssäfte zugeführt und sehr viel alte ein-
trocknen lassen. Mag ein jeder von uns, aus seiner Grundgesin-
nung heraus, sich entscheiden, worin er den durch die Reformation
unserem Volke gebrachten Gewinn erkennt: zu den Opfern, mit
denen er erkauft wurde, hat jedenfalls die Kunst eine starke Bei-
steuer geliefert.

Hiermit ist aber über das Thema "Reformation und bildende
Kunst" noch nicht das letzte Wort gesprochen. Es kommt auf
den Begriff der Reformation an. Läßt man sie erst mit dem
Jahre 1517 beginnen, dann allerdings wäre viel mehr nicht zu
sagen. Ist man aber davon überzeugt, daß es lange vor dem Auf-
treten Luthers schon eine latente Vorreformation gegeben hat,
dann wird man bei einem anderen Urteil angelangen. Ich halte
die bildende Kunst im letzten Menschenalter des 15. und im ersten
des 16. Jahrhunderts für eine Hauptquelle zur Erkenntnis dieser
latenten Vorreformation. Es sind noch die alten Schläuche, aber
in ihnen ist ein neuer Wein. Aus dieser Vorabendkunst spricht
ein Gemütszustand, der durchaus ein anderer ist als der des klas-
sischen Katholizismus im hohen Mittelalter, der in gerader Linie
auf den religiösen Kern der Reformationsbewegung hinführt. Es
wurden hier in aller Stille Blütenträume geträumt, von denen
freilich in den rauhen Frühlingstagen der Reformation nur ein
kleiner Teil zur Reife kam. Ich kann dies hier nicht weiter aus-
führen. Wie ich es meine, wird schon ein einziges Beispiel erläu-

Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert
errichtet wurde — allerdings nicht von einem Deutschen, sondern
von einem verwelschten Niederländer —, entstand in Norddeutsch-
land die nach ihrem wahren und hohen Wert zu wenig erst bei
uns bekannte Wolfenbütteler Marienkirche Paul Frankes, der
Münchener Jesuitenkirche künstlerisch ebenbürtig und viel ori-
gineller, besonders genetisch viel deutscher. Daß sie keinen Nach-
wuchs fand, dafür liegen die Gründe wieder nicht in der Kunst-
entwicklung an sich, noch auch in der Religion, sondern in den
allgemeinen Verhältnissen.

Alles in allem: es ist eine unbestreitbare Tatsache, die Refor-
mation und ihre Folgeerscheinungen haben der bildenden Kunst
sehr wenig neue Lebenssäfte zugeführt und sehr viel alte ein-
trocknen lassen. Mag ein jeder von uns, aus seiner Grundgesin-
nung heraus, sich entscheiden, worin er den durch die Reformation
unserem Volke gebrachten Gewinn erkennt: zu den Opfern, mit
denen er erkauft wurde, hat jedenfalls die Kunst eine starke Bei-
steuer geliefert.

Hiermit ist aber über das Thema »Reformation und bildende
Kunst« noch nicht das letzte Wort gesprochen. Es kommt auf
den Begriff der Reformation an. Läßt man sie erst mit dem
Jahre 1517 beginnen, dann allerdings wäre viel mehr nicht zu
sagen. Ist man aber davon überzeugt, daß es lange vor dem Auf-
treten Luthers schon eine latente Vorreformation gegeben hat,
dann wird man bei einem anderen Urteil angelangen. Ich halte
die bildende Kunst im letzten Menschenalter des 15. und im ersten
des 16. Jahrhunderts für eine Hauptquelle zur Erkenntnis dieser
latenten Vorreformation. Es sind noch die alten Schläuche, aber
in ihnen ist ein neuer Wein. Aus dieser Vorabendkunst spricht
ein Gemütszustand, der durchaus ein anderer ist als der des klas-
sischen Katholizismus im hohen Mittelalter, der in gerader Linie
auf den religiösen Kern der Reformationsbewegung hinführt. Es
wurden hier in aller Stille Blütenträume geträumt, von denen
freilich in den rauhen Frühlingstagen der Reformation nur ein
kleiner Teil zur Reife kam. Ich kann dies hier nicht weiter aus-
führen. Wie ich es meine, wird schon ein einziges Beispiel erläu-

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[157/0199] Die Krisis der Deutschen Kunst im XVI. Jahrhundert errichtet wurde — allerdings nicht von einem Deutschen, sondern von einem verwelschten Niederländer —, entstand in Norddeutsch- land die nach ihrem wahren und hohen Wert zu wenig erst bei uns bekannte Wolfenbütteler Marienkirche Paul Frankes, der Münchener Jesuitenkirche künstlerisch ebenbürtig und viel ori- gineller, besonders genetisch viel deutscher. Daß sie keinen Nach- wuchs fand, dafür liegen die Gründe wieder nicht in der Kunst- entwicklung an sich, noch auch in der Religion, sondern in den allgemeinen Verhältnissen. Alles in allem: es ist eine unbestreitbare Tatsache, die Refor- mation und ihre Folgeerscheinungen haben der bildenden Kunst sehr wenig neue Lebenssäfte zugeführt und sehr viel alte ein- trocknen lassen. Mag ein jeder von uns, aus seiner Grundgesin- nung heraus, sich entscheiden, worin er den durch die Reformation unserem Volke gebrachten Gewinn erkennt: zu den Opfern, mit denen er erkauft wurde, hat jedenfalls die Kunst eine starke Bei- steuer geliefert. Hiermit ist aber über das Thema »Reformation und bildende Kunst« noch nicht das letzte Wort gesprochen. Es kommt auf den Begriff der Reformation an. Läßt man sie erst mit dem Jahre 1517 beginnen, dann allerdings wäre viel mehr nicht zu sagen. Ist man aber davon überzeugt, daß es lange vor dem Auf- treten Luthers schon eine latente Vorreformation gegeben hat, dann wird man bei einem anderen Urteil angelangen. Ich halte die bildende Kunst im letzten Menschenalter des 15. und im ersten des 16. Jahrhunderts für eine Hauptquelle zur Erkenntnis dieser latenten Vorreformation. Es sind noch die alten Schläuche, aber in ihnen ist ein neuer Wein. Aus dieser Vorabendkunst spricht ein Gemütszustand, der durchaus ein anderer ist als der des klas- sischen Katholizismus im hohen Mittelalter, der in gerader Linie auf den religiösen Kern der Reformationsbewegung hinführt. Es wurden hier in aller Stille Blütenträume geträumt, von denen freilich in den rauhen Frühlingstagen der Reformation nur ein kleiner Teil zur Reife kam. Ich kann dies hier nicht weiter aus- führen. Wie ich es meine, wird schon ein einziges Beispiel erläu-

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Zitationshilfe: Dehio, Georg: Kunsthistorische Aufsätze. München u. a., 1914, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dehio_aufsaetze_1914/199>, abgerufen am 25.11.2024.